Die Farbe der See (German Edition)
sagte er leise. »Er kommt nicht!«
Sie murmelte etwas, dann schlug sie die Augen auf. Auch sie schien einen Augenblick zu brauchen, um zu verstehen, wo sie sich befand.
»Was hast du gesagt?«, murmelte sie schläfrig.
»Es ist viertel vor fünf und Lasse ist nicht gekommen.«
Mit einem Schlag war sie hellwach und aus der Koje heraus. Ole trat zur Seite und ließ sie ans Bullauge, obwohl er wusste, dass dort draußen nichts war außer freiem Wasser.
»Vielleicht hat er ein Problem mit dem Motor«, murmelte Lina ratlos. »Oder er ist aufgehalten worden, weil ihn jemand beobachtet hat? Die Polizei vielleicht.«
Ole zuckte die Achseln.
Vielleicht hat er es sich auch ganz einfach anders überlegt, dachte er. Doch das sprach er lieber nicht aus.
»Wir dürfen jedenfalls nicht länger in Marstrand bleiben«, sagte er stattdessen. »Das ist zu riskant!«
Lina nickte zustimmend.
»Dann müssen wir wohl oder übel den Landweg nehmen.«
Ole schüttelte den Kopf. Der Weg über die Straßen war erheblich länger und die Gefahr ungleich größer, dass sie dort von der Polizei entdeckt würden.
»Besser wir treiben ein anderes Boot auf.«
Er überlegte.
»Was ist mit dem, das eure Freunde für die Reise von Norwegen hierher benutzt haben?«
Ole erinnerte sich, dass es noch im unteren Teil des Sundes vor Anker gelegen hatte, als er vorgestern Abend an Bord der Skagerrak zurückgekehrt war.
»Ausgeschlossen. Die Polizei weiß doch, wem es gehört hat. Wenn wir es nehmen, fallen wir damit genauso auf wie mit deiner riesigen deutschen Marineyacht.«
Das stimmte allerdings. Ole überlegte. Also ein Boot, das klein und unauffällig war. Und am besten nicht so schnell vermisst würde.
Plötzlich musste er grinsen und sah sich in der unordentlichen Kabine um.
»Ich wüsste da noch eins!«
Keine fünfzehn Minuten später hatten sie abgelegt.
Zwar hatte ihnen der kleine Hilfsmotor, den Ole hinter einer Klappe des Niedergangs gefunden hatte, im ersten Angang den Dienst verweigert, vermutlich weil seine Batterie komplett entladen war, aber der Wind stand günstig, und auf das verräterische Knattern eines Motors konnten sie ohnehin getrost verzichten.
Sie setzten das Großsegel noch am Steg liegend, lösten die Leinen und glitten lautlos in der frischen Morgenbrise aus dem Sund. Idealerweise lag der wackelige Steg mit der Yacht ohnehin fast an dessen Ausgang, und nur wenige Häuser auf der anderen Seite blickten in diese Richtung. Der größere Teil der Ortschaft lag hinter dem Knick des engen Fahrwassers verborgen, und Ole war sich so gut wie sicher, dass auch ihre zweite Flucht aus Marstrand unbemerkt geblieben war.
Draußen auf dem offenen Marstrandfjord übergab Ole die Ruderpinne an Lina, um auch noch das Vorsegel zu setzen.
»Was muss ich tun?«, fragte sie.
»Einfach nur festhalten und geradeaus steuern. Auf die Lücke zwischen den beiden Inseln dort drüben zu.«
Sie machte ein Zeichen, dass sie verstanden hatte, zog die Kapuze ihres Ölzeugs ins Gesicht und klemmte in der Manier eines alten Salzbuckels die Pinne unter den Arm.
Ole verschwand im Vorschiff. Dort fand er einen Sack mit dem Vorsegel. Ein paar passende Schoten waren, er hatte es fast nicht anders erwartet, unaufgeschossen mit hineingestopft. Er öffnete die Vorschiffsluke, wuchtete den Sack hinaus. Nach ein paar weiteren Minuten war die Fock angeschlagen, gesetzt und dicht geholt.
Inzwischen war es taghell geworden. Der Wind kam aus West und blies bereits mit etwa drei Windstärken. Nicht lange und er würde weiter auffrischen. Aber das war Ole recht. So würden sie noch besser vorankommen.
Schon nach einer halben Stunde unter Segeln hatte Ole gewusst, dass sie mit ihrer Kaperbeute unverschämtes Glück gehabt hatten. Die Yacht, so heruntergekommen sie auch aussehen mochte, segelte exzellent. Sie machte gute Fahrt durchs Wasser, reagierte leicht auf das Ruder und nickte mit eleganten Bewegungen über die Wellen hinweg, anstatt stumpf mit dem Bug in sie hineinzurennen, wie es oft bei zu schwer gebauten Schiffen der Fall war. Wenn jetzt noch vernünftige Tücher am Mast wären, dachte Ole mit einem kritischen Blick zu den gelbfleckigen, ausgewehten Segeln hinauf. Aber das wäre vielleicht auch zu viel verlangt gewesen.
Viel wichtiger war im Moment, dass er das Wasser aus der Bilge gelenzt bekam, um herauszufinden, ob es bloß vom Regen stammte oder ob am Ende der Rumpf irgendwo eine Undichtigkeit aufwies. Und dann der Motor. Sicher würde es
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