Die Farbe der See (German Edition)
man freien Wind und einen frühen Vorteil errungen. Wenn nicht, musste man nicht nur einem Boot ausweichen, sondern allen!
»Wir … wenden?«, fragte er ungläubig.
»Natürlich. Der Wind dreht doch weg hier drüben!«
Das hatte Ole zwar auch bemerkt, aber er wäre in dieser Situation lieber so lange weitergefahren, bis die Boote über ihnen zuerst den Bug gewechselt hätten.
»Wenn du mir die Wende versaust, schmeiß ich dich über Bord,« schnarrte von Wellersdorff. »Hast du verstanden, Junge?«
»Wende ist klar!«, krächzte Ole. Dass gleich alles vom ersten Manöver abhängen sollte, war nicht besonders vielversprechend.
»Re!«
Von Wellersdorff stieß die Pinne von sich und tauchte unter dem überkommenden Großbaum hindurch. Als er drüben ankam, war Ole schon auf der neuen Luvkante, holte die Fock dicht und hängte sich weit nach außen, um das Krängen des Bootes auszugleichen. Wasser gurgelte unten über das leewärtige Seitendeck, aber dann richtete sich der Star sofort wieder auf und beschleunigte. Einen bangen Moment lang konnte Ole wegen des Großsegels keinen Blick auf ihre Widersacher erhaschen. Aber dann schäumte eineinhalb Meter hinter ihrem Heck der Bug von Weise hindurch und Sekunden danach der des Italieners.
»Gut gemacht!«, lobte von Wellersdorff. »Und jetzt häng dich rein!«
Schulbuchmäßig legte sich Ole der Länge nach mit seinem Körper außen auf die schräge Bordwand. Sein Gewicht sollte sich so weit es ging in Luv befinden, um möglichst effektiv dem Druck des Segels entgegenzuwirken. Er war ziemlich erstaunt, als er bemerkte, dass auch von Wellersdorff die gleiche Haltung einnahm und mit langem Arm am Pinnenausleger steuerte. Für einen Mann seines Alters eine ungemein athletische Art zu segeln.
Auch die anderen Boote, die auf Backbord-Bug herankamen, gingen ohne Probleme hinter ihnen durch. Einzig von Hütschler mussten sie ausweichen. Das hatte jedoch zur Folge, dass sie bei ihrem nächsten Zusammentreffen, nachdem jedes der beiden Boote eine weitere Wende gefahren hatte, ihrerseits Vorfahrt reklamieren konnten. Diesmal musste der Titelverteidiger seine Schoten fieren, hinter ihnen passieren und ihnen den ehrenvollen Vortritt um die erste Tonne lassen.
Auch wenn man ihm dies kaum ansah, war Ole völlig aus dem Häuschen. Nie, nicht in seinen kühnsten Träumen hatte er sich vorgestellt, einmal einem seiner Segelidole derartig den Schneid abzukaufen. Und sei es auch nur für einen kurzen Moment.
Denn dass sie diese Position nicht auf Dauer würden halten können, davon war er fest überzeugt. Von Wellersdorff jedoch sah auch das anders.
»Nerven behalten«, knurrte er. »Die andern kochen auch nur mit Wasser!«
Zwar mussten sie auf den folgenden Bahnschenkeln von Hütschler, Straulino und auch den Ex-Weltmeister Wegeforth ziehen lassen, aber als es auf die Zielkreuz ging, waren sie immer noch an vierter Position. Ein überaus befriedigendes Ergebnis, wenn es denn so blieb.
Zu Beginn dieser letzten Runde fiel Ole eine leichte Veränderung auf. War zuvor das Blau der Wasseroberfläche noch etwas dunkler und die Wellen steiler gewesen, wirkten sie nun flacher und ihre Farbe war heller und matter. Ole wusste, was das bedeutete: Die Strömung war gekippt und kam nun mit dem Wind von vorne.
Unterschiedliche, ihren Ort verändernde Strömungen waren für die Kieler Außenförde nichts Ungewöhnliches. Besonders nicht, wenn man in der Nähe der tieferen Fahrrinne segelte. Ole sah sich um. 100 Meter Backbord querab, wo es flacher wurde, durchzog ein dunkles, von kleinen Wirbeln durchzogenes Band die Oberfläche. Eine Strömungskante. Dahinter hatte das Wasser noch das gleiche Aussehen wie zuvor. Also würde dort auch der Strom noch aus der alten Richtung setzen. Und das Boot auch weiterhin anschieben, anstatt zu bremsen.
»Wir sollten da rüber wenden«, sagte er, ohne großartig darüber nachzudenken.
Von Wellersdorff richtete sich aus seiner Ausreitposition auf und starrte ihn an. »Blödsinn! Zum Angreifen sind wir viel zu weit weg. Wir müssen den Hintermann decken.«
Tatsächlich waren von Hütschler, Straulino und Wegeforth bereits sechzig oder siebzig Meter voraus, wogegen ihr ärgster Konkurrent Weise nur zwei Bootslängen hinter ihnen die Leetonne gerundet hatte.
»Aber die Strömung ist gekippt!«
Darauf zu insistieren war vorlaut, doch vermutlich war es das Wort »Blödsinn« gewesen, das Ole zu seinem Widerspruch veranlasst hatte.
»Du behauptest also,
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