Die Farbe der Träume
schließlich aus ihr heraus. Sie fuhr sich mit den Händen heftig durch ihr kurzes Haar. »Versuchen Sie herauszubekommen, was er mit ›Freundschaft‹ meint. Was ihm solche Angst macht? Schauen Sie, ob Sie sich einen Reim darauf machen können.«
»Ich werde es versuchen«, sagte Harriet.
»Und falls … falls es ein Geheimnis gibt, das er uns nicht verraten möchte … erinnern Sie ihn daran, dass nur eins für uns wichtig ist: dass es ihm wieder gutgeht. Alles andere zählt nicht.«
Edwin Orchard konnte seinen Wurm beschreiben.
Er war weiß und blind und faul, lag eingerollt in ihm, bewegte sich kaum, schleckte den süßen Pudding auf und wurde dabei dick und schwer. Begonnen hatte er so dünn wie der Stängel einer frisch gesäten Zwiebel, aber jetzt war er sehr viel breiter und länger. Wie eine Schlange, die Edwin in einem Bilderbuch gesehen hatte.
In seinen Träumen lag Pare auf ihrem Felsvorsprung und sprach zu ihm mit ihrer leisen, angstvollen Stimme. Sie sagte, sie wisse, dass er leide, genauso wie sie leide, und sie hätte ihm auch bestimmt geholfen, wenn sie ihn erreicht hätte, aber sie könne ihn nicht erreichen. Sie sagte warnend, wahrscheinlich würden sie beide sterben, er und sie.
Einige der Geschichten, die Pare Edwin erzählt hatte, kehrten zu ihm zurück. Geschichten von Menschen, die auf einem elastischen Seil bis in den Himmel sprangen; von Frauen, die ihre Ehemänner töteten und sie wie Fische verschluckten; von Geistern, die in die Gestalt von Eidechsen oder Bäumen oder Kormoranen oder Feuer schlüpften. Und so stellte er sich die Frage,ob sein Wurm wohl auch einer dieser Geister war. Eines bekümmerte ihn dabei besonders: Er hatte keine Ahnung, wo diese Welt der Geister war. Edwin war ein Junge, der gern ganz genau wusste, wo die Dinge sich befanden. In seiner Zeit mit der Raupe hatte er aus dem Augenwinkel immer sehen können, wo sie gerade hinkriechen wollte – selbst wenn sie so tat, als wäre sie ein Zweig oder eine kleine braune Diestel –, bis sie eines Tages so weit fortging, dass sie sich unsichtbar machte und zu etwas anderem wurde und dann noch einmal zu etwas anderem. Aber die Welt der Geister hatte er nie gesehen. Pare hatte ihm nie erklärt, wo sie war, und wie man sie finden konnte. War sie unter der Erde oder hoch oben über den Bäumen? Und wie konnte etwas aus einer anderen Welt, die er nie gesehen hatte, den Weg in seinen Körper finden? Er hatte versucht, seinen Vater zu fragen: »Gibt es nur eine Welt, Papa, oder ganz viele Welten?«
An dem Tag, als Edwin ihm diese Frage stellte, war Toby Orchard in keiner guten Stimmung, weil irgendjemand Schafe von der Weide stahl. Er hatte keine Beweise, aber es verschwanden Schafe, und deshalb musste es einen Dieb geben, der auf der Farm arbeitete, irgendeinen schlauen Kakadu, der sein Handwerk verstand und keine Spuren hinterließ.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte er barsch. »Redest du vom Himmel?«
»Nein«, sagte Edwin. »Ich meine nicht die andere Welt, wenn man tot ist. Ich meine eine andere Welt hier. Eine Welt, die man fast nie sieht.«
»Wir alle ›sehen‹ Dinge in unserem Kopf«, sagte Toby etwas freundlicher. »Wir alle können uns Dinge vorstellen …«
»Ich meine richtige Dinge, die man aber nicht die ganze Zeit sehen kann.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel … könnte es doch einen Ort geben, wo der Moa-Vogel jetzt ist, Papa, und wir können ihn nur nicht sehen?«
»Nein«, sagte Toby. »Es kann keinen Ort geben, wo der Moa-Vogel ist. Der Moa wurde so lange gejagt und getötet, bis keiner mehr übrig war. Er kann nie mehr zurückkommen.«
»Das weiß ich. Ich weiß, dass er nicht hierher zurückkommen kann, aber er könnte doch in eine andere Welt zurückkommen, oder? Kann es nicht vielleicht eine andere Welt geben, in der er nicht gestorben ist? Und wenn wir dahin könnten …«
»Nein, Edwin. Es gibt nur eine Welt, und es ist schon schwierig genug, in der den Überblick zu behalten. Dir sind deine Gedanken ein bisschen durcheinandergeraten. Fühlst du dich stark genug, um dein Pony zu holen? Du könntest mir bei der Spurensuche helfen, mit mir schauen, ob unser Schafdieb irgendwelche Zeichen im Gras hinterlassen hat.«
Edwin Orchard stellte sich gern vor, dass seine Mutter und sein Vater alles wussten, was man wissen konnte. Aber er begriff auch, dass es gewisse Dinge gab, die Pare wusste und die nicht zu dem gehörten, was seine Eltern wissen konnten. Und all das war es, was Edwin
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