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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Schlucht. Die Schlucht war nur der sichtbare Ausdruck für die Düsternis im Inneren ihrer Köpfe. Die Schlucht war das, was Flinty jeden Morgen beim Aufwachen sah. Die Schlucht war so, wie Johnboy sich jene Nacht vorstellte, in der sein Vater in einem Eisenbett auf seiner Mutter lag und sie verließ, noch bevor es hell wurde, und dann nie mehr wiederkam. Aber jetzt würden sie die Schlucht erobern. Flinty und Johnboy. Sie würden sie unter ihren Stiefeln zermalmen und in ihren vermaledeiten Fluss pissen. Sie würden endlich einmal etwas meistern.
    Sie spürten, wie die Kälte und die Dunkelheit ihnen entgegenkrochen. Sie spürten, wie der steinige Boden unter ihrem Gewicht nachgab und wegrutschte. Sie hörten irgendwo in der eisigen Luft Vögel kreischen.
    Sie seilten sich aneinander. Warum nicht? Manchmal bindet einen das Leben an einen anderen, und man akzeptiert es, so wie man eine freie Mahlzeit oder ein Mädchen akzeptiert, das zufällig neben einem auftaucht, wenn man es braucht.
    Aneinandergeknotet – jeder der beiden so ans Seil geknüpft,als wäre das eine Ende an etwas Unverrückbarem befestigt –, stiegen Flinty und Johnboy hinunter ins Schattenreich. Sie versuchten, einem Weg zu folgen, den andere Goldsucher schon gegangen waren und mussten feststellen, dass immer wieder vom Wind entwurzelte Bäume über den Weg gestürzt waren. Und das Unterholz war so dicht, dass es kaum möglich schien, um die gestürzten Baumstämme herumzugehen. Deshalb kletterten sie darüber, wobei sie sich mit ihrem Seil verhakten und fluchten, wenn Dornen sie in die Arme stachen und die Last ihrer Bündel sie stolpern ließ.
    Oben vom Rand der Schlucht aus hatten sie tief unten den Hurunui-Fluss sehen können, aber jetzt sahen sie gar nichts, nur fast gespenstisch undeutlich den Pfad – oder das, was ihre Augen gern für den Pfad halten wollten. Er wand sich zwischen den Bäumen hindurch, führte sie über Termitenhügel, um große Felsen herum und immer wieder ganz plötzlich an ungeahnte Abgründe, wo sie gerade noch zum Stehen kamen, bevor sie abstürzten. Beide rissen jedes Mal heftig am Seil, sahen hinunter und hielten dann suchend nach einem anderen Weg Ausschau. Und währenddessen beschlich sie immer mehr das Gefühl, dass sie verloren waren.
    »Wir müssen einfach nur immer bergab, dann sind wir richtig«, sagte Flinty, der voranging, »dieser Pfad führt nirgendwohin außer zum Fluss. Und dem folgen wir dann.«
    Je tiefer sie in die Schlucht hinabstiegen, desto stiller wurde es. Es war wie eine hereinbrechende Abenddämmerung – eine Mittags-Abenddämmerung –, als würde, mit Einbruch der Nacht, endgültig jedes Leben verschwinden. Doch in dem trüben Licht schienen seltsame Tiere, geduckte Gestalten schattenhaft aus den Bäumen zu wachsen, und Johnboy umklammerte verzweifelt das Seil. Er versuchte, die Angst zu unterdrücken, doch er merkte, wie ihm die Beine weich wurden, als hätte die Schwerkraft keine Wirkung mehr, und er flüsterte Flinty zu: »Kommt einem vor wie … wie die Tiefe. Was, Flinty? Wie der Grund des Meeres?«
    »Bleib auf dem Weg. Bleib auf dem Weg«, sagte Flinty. »Lass dich nicht verrückt machen.«
    Allein wäre er verloren. Das wusste Johnboy. Er hatte damit geprahlt, dass er als der Jüngere Flinty über den Hurunui »helfen« würde. Aber ganz so unheimlich hatte er es sich doch nicht vorgestellt. Nicht dieses grauenhafte Gefühl, als liefe er in eine Unterwasserwelt hinein und müsste ertrinken. Er hatte Hunger und Elend erlitten und glaubte, alles ertragen und bestehen zu können, was das Leben ihm zwischen die Beine warf, bis irgendwann das Licht von etwas Besserem vor ihm aufscheinen würde. Aber während Johnboy Shannon mit Flinty Fairford in die Tiefen der Schlucht hinunterkroch, spürte er mit einem Mal, wie er in eine Welt gezogen wurde, in der es kein »Licht von etwas Besserem« gab, sondern nur Verwirrung. Er hatte das Gefühl, dass alles sich in nichts auflöste.
    »Siehst du den Weg, Flinty?«, fragte er immer wieder. »Du siehst ihn doch, oder?«
    Aber beide wussten, dass das leere Worte waren, nicht nur, weil es keinen Weg gab, sondern weil hier alle Worte leer waren, denn die Luft lastete so schwer auf allem, was atmete, dass Geräusche sich nicht lange genug halten konnten, um sich mit Bedeutung aufzuladen. Und allmählich wurde es schwierig, zwischen dem zu unterscheiden, was einer tatsächlich sagte, und dem, was nur fantastische Kopfgespinste waren. Flinty Fairford

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