Die Farbe der Träume
einfach nur zu. Erklär Harriet, wie mutig sie war.«
Die drei saßen auf der Veranda des Hauses. Die vergangenen Abende waren kühl gewesen, aber nun war es plötzlich wieder warm geworden, als hätte der Sommer sich wie ein alter vergessener Liebhaber zurückgemeldet.
»Natürlich war es mutig«, sagte Toby und zog an seiner Pfeife, »aber es war auch Wahnsinn. Es war Selbstmord. Und das weiß Harriet.«
»Das weiß sie ganz bestimmt nicht. Was sagen Sie, Harriet?«, fragte Dorothy.
Harriet blickte in den Garten, aus dem es stark nach Farnkraut duftete, und dachte, wenn sie allein mit Dorothy wäre, würde sie versuchen, ihr zu beschreiben, was sie dort oben im Manuka-Gebüsch empfunden hatte, dieses Verlangen, diese Sehnsucht nach etwas, das sie zwar nicht genau benennen konnte, das sich aber gewiss nicht auf den Tod richtete. Aber etwas an Toby, seine unangreifbare, geballte Massigkeit , hinderte Harriet, darüber zu sprechen; außerdem verachtete er vermutlich Wörter wie »Verlangen« oder »Sehnsucht«.
Dorothy blieb beharrlich. »Solange Harriet die Schlucht nicht gesehen hatte, konnte sie doch nicht wissen, wie gefährlich sie ist, Toby«, sagte sie. »Solange man die Dinge nicht selbst gesehen hat …«
»Man muss nicht alles sehen , um zu wissen, wie es ist, Dorothy. Du hast den Himalaya noch nie gesehen, aber du würdest nicht auf die Idee kommen, ihn zu besteigen.«
»Nein, natürlich nicht, aber …«
»Toby hat Recht«, sagte Harriet. »Ich war gewarnt worden. Aber Berge haben mich schon immer angezogen. Wahrscheinlich, weil ich in Norfolk aufgewachsen bin!«
Niemand lachte oder lächelte auch nur. Sie schwiegen einfach alle drei für eine Weile, und Dorothy rückte mit ihrem Stuhl ein wenig von Toby ab, um ihm zu zeigen, dass sie ihn zu streng fand. Sie wollte ihn gerade zum zweiten Mal auf den schönen Abend hinweisen und sagen, dass sie ihn sich doch nicht mit einem wenn auch nur beiläufigen Streit verderben sollten, als Toby sagte: »Es tut mir leid, wenn ich unfreundlich klang, Harriet. Wie Dorothy weiß, bin ich sehr dafür, dass Frauen so beherzt agieren wie Sie. Aber wir müssen alle den Unterschied zwischen mutig und töricht begreifen lernen. Sie haben großen Mut bewiesen, indem Sie umkehrten.«
»So ist es besser, Toby«, sagte Dorothy. »Und natürlich hat er Recht, Harriet. Man stelle sich vor, wir hätten Sie verloren.«
»Ja«, sagte Harriet. »Auch ich habe gemerkt, dass ich nicht verloren gehen wollte.«
Sie plauderten über andere Dinge: über das neue Eishaus, das zur Lagerung von Hammelhälften hinter dem Kiefernwäldchen gebaut werden sollte, und über die Eisvögel, die Toby gerade erst am Bach gesehen hatte. Dann klopfte Toby seine Pfeife aus und ging schlafen, und Dorothy und Harriet blieben allein zurück. Harriet war zwar müde, fühlte sich jedoch in ihrem Verandasessel sehr wohl. Sie atmete die nächtliche Luft aus dem Garten, dessen Aroma sie jetzt, wo Toby mit seinem männlichen Geruch und seiner Pfeife ins Haus verschwunden war, noch deutlicher wahrnahm. Wenn sie sich in eine Decke einwickeln könnte, dachte sie, würde sie die ganze Nacht hier draußen verbringen und erst wach werden, wenn ein vom Licht geweckter Vogel sein Morgenlied begann.
Dorothy seufzte. »Es tut mir leid, dass Toby so gereizt war«, sagte sie leise. »Er macht sich solche Sorgen um Edwin, dass er sich kaum auf etwas anderes konzentrieren kann, und deshalb hat er auch kein Gespür mehr für Zwischentöne.«
Sie schwiegen eine Weile, dann fuhr Dorothy fort: »Edwin will nicht mehr essen. Nur Pudding. Wir haben versucht, ihn zu zwingen, aber es geht nicht. Er erbricht alles wieder. Also lassen wir ihn jetzt nur Pudding essen. Janet macht sie in allen Farben, und wir versuchen, etwas Gutes hineinzutun – Honig und Zitronenschale und Ähnliches. Wir sind dann mit ihm nach Kaiapoi zum Arzt gegangen. Und der sagte, er glaubt, Edwin hat einen Wurm.«
»Einen Wurm?«
»Er hat eine Medizin verschrieben. Bitter wie Aloe. Auch die Medizin müssen wir in den Pudding tun. Er sagt, die Medizin soll den Wurm nicht töten . Ein toter Wurm im Körper vergiftet das Blut. Also versuchen wir, den Wurm am Leben zu halten und ihn auszuspülen. Wir untersuchen jeden Stuhl.«
Plötzlich hatte Harriet das Gefühl, die Luft auf der Veranda sei nicht mehr so wohltuend wie noch vor wenigen Minuten. Sie zog ihr Tuch fester um die Schultern.
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Dorothy. »Sie denken an das
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