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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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jenem lächerlichen Bild ruhten, das gemalt worden war, bevor sein Leben überhaupt richtig begonnen hatte.
    Und noch etwas quälte ihn.
    Er hoffte und betete, dass Lilians Sarg innen mit irgendetwas ausgestattet war, das seine Mutter zusammenhielt. Denn sie war ein Mensch gewesen, der in Räumen stets peinlich genau auf Haltung geachtet hatte, die Knie ordentlich aneinandergedrückt, die Ellbogen am Körper, die Stola fest um sich gezogen. Die Vorstellung, Lilian May Blackstone müsste in einer Holzkiste herumrutschen, war ihm unerträglich; sie hätte so einen Zustand vollkommen inakzeptabel gefunden.
    Joseph hätte Harriet gern gefragt, ob der Sarg innen ausgekleidet war, aber er fürchtete sich vor einem Nein. Denn wenn er sich die kleine Kirche in Rangiora vorstellte – mit ihren grün gestrichenen Bretterwänden und dem windschiefen kleinen Glockenturm obendrauf –, sah er nur beängstigende Provisorien. Bretter, die nur notdürftig zusammengenagelt waren, ständig auseinanderklafften oder rissen und sich in Hitze und Kälte verzogen. Alles war dünn und schäbig und nicht für größere Dauer geschaffen. Weshalb er wusste, dass die Chancen für einen würdig ausstaffierten Sarg sehr gering waren. Und als Joseph da auf seiner Matratze lag, während Harriet und der Hund bequem im Bett schliefen, redete er sich ein, er weine deshalb, weil der Sarg für seine tote Mutter kein komfortables Innenfutter hatte, und das sei ein völlig legitimer Grund für die Tränen eines erwachsenen Mannes.
    Die Seereise mit der Wallabi war lang, kalt und hart gewesen. Und als Harriet endlich Josephs Zimmer im Hokitika-Hotel betrat, war sie so müde, dass sie schon einzuschlafen drohte, ehe sie das Wort Schlaf überhaupt gedacht hatte. Sie versuchte, sich wenigstens noch eine kleine Weile wach zu halten und über das nachzudenken, worüber sie, wie sie wusste, unbedingt nachdenken musste, nämlich über Josephs veränderte Erscheinung. Er war immer schon dünn gewesen, doch jetzt sah er aus wie … wie sah er eigentlich aus? Wie eine Vogelscheuche? Ein Schiffbrüchiger? Ein Sträfling? Und während der Schlaf die Arme nach ihr ausstreckte und ihre Gedanken immer luftiger und leichter wurden, kam Harriet zu dem Schluss, dass Joseph auch etwas von einem Bilderbuch-Jesus hatte: mit seinen langen, wilden Haaren, dem dichten, lockigen Bart, den leidenden Augen, die zu groß für sein Gesicht waren …
    Während sie so mit dem Schlaf kämpfte, stellte sie sich ein paar harte, vernünftige, solide Fragen: War es das, was die Goldsuche mit einem Mann machte? Würde sie, wenn sie zu den Goldfeldern kam, Hunderte Männer sehen, die genauso wie Joseph aussahen? Oder war ihm noch etwas anderes widerfahren, seit sie voneinander getrennt waren? Harriet blickte ihn über die Bettkante an, wie er da unten auf seiner Matratze lag. Joseph Blackstone. Sie hatte ihm noch nicht offenbart, dass sie das Geheimnis vom Gold am Bach kannte, und jetzt fragte sie sich, ob sie es je tun würde. Denn mit einem Mal hatte sie das Gefühl, es sei vielleicht nur eines von sehr vielen Dingen, die erihr verheimlichte. Womöglich hatte er inzwischen einen Berg von Geheimnissen aufgetürmt, die sich nie würden enträtseln lassen. Was nützte da eine Konfrontation?
    Harriet sank in ein Meer aus Schlaf, das schwarz und weit und endlos war und von keinen Träumen bevölkert wurde. Als Lady aufs Bett sprang, rührte Harriet sich nicht. Menschen schrien auf den Fluren, knallten Türen, husteten, lachten und fluchten, aber Harriet nahm nichts von alledem wahr. Und das Geräusch von Josephs Weinen? Vielleicht wachte sie ein- oder zweimal auf, aber nie lange genug, um es wirklich zu hören.
    Als sie am Morgen, inmitten der lärmenden neuen Jungs, die mit der Wallabi gekommen waren, zusammen Hafergrütze und Eier aßen, sagte Joseph: »Ich habe die ganze Nacht gegrübelt, was wir jetzt machen sollen. Ich werde meine Schürflizenz erneuern und für mindestens zwei Monate nach Kokatahi zurückgehen, denn aufgeben kann ich noch nicht. Aber ich werde dich nicht mitnehmen. Es gibt keine Frauen auf den Goldfeldern. Und bald kommt der Winter. Du wirst nach Christchurch zurückkehren müssen.«
    Harriet sagte nichts.
    Joseph wischte sich graue Hafergrütze aus dem Bart. Er hätte Harriet am liebsten darum gebeten, sie möge Toby Orchard überreden, alles Land zu kaufen, das Harriet und ihm gehörte, und auch das, was noch vom Lehmhaus, der Scheune und dem Gemüsegarten übrig war. Er

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