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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Baracken und Schuppen umgeben, und Harriet musste immer wieder die seltsame Architektur dieser Konstruktionen bestaunen. Einige waren rechtwinklig und akkurat aus ordentlich zugeschnittenen Brettern errichtet, Türen und Fenster hatten Rahmen aus Draht, die mit Sackleinen verhängt waren. Andere sahen aus, als hätten Kinder oderBiber sie gebaut: niedrige Gerippe unbestimmter Gestalt mit Dächern aus dünnen Buchenästen, von denen der Wind die Blätter riss.
    Harriet hatte hautnah miterlebt, was das Wetter mit dem Lehmhaus gemacht hatte. Und deshalb war ihr klar, dass kaum etwas hier in Kokatahi den Winter überstehen würde. Ein einziger Sturm, der von den Bergen herunterfegte, ein einziges Schneetreiben wie jenes, das Beauty getötet hatte, eine einzige Woche mit strömendem Regen, der den Fluss anschwellen ließ – mehr brauchte es nicht, um das Grabungsfeld in Kokatahi zu erledigen.
    In ihre rote Decke gewickelt, lag Harriet auf dem harten Boden und malte sich diverse dramatische Möglichkeiten für das Ende des Goldrauschs von Kokatahi aus. Sie tat es, um gegen den Lärm der Männer und das nächtliche Geflacker ihrer Feuer den Schlaf herbeizulocken. Sie tat es auch, weil ihr dieser Ort, trotz all seiner unaufhörlichen Geschäftigkeit, so instabil wie eine Sandburg vorkam.
    Zuerst würde der Wind kommen, beschloss sie. Er würde das dunkle Tal des Styx herabgebraust kommen und an den Zelten und Schuppen rütteln, so wie er am Dach des Lehmhauses gerüttelt und den Staub aus den Wänden geblasen hatte. Zelte würden von den Heringen losgerissen und sich vielleicht für einen Moment aufspreizen, wie Sonnenschirme, die sich auf einer windigen Rennbahn aus den behandschuhten Händen der Damen befreien. Dann würden sie als Stofffetzen wieder auf der Erde landen, vom Wind zu den verschiedensten Formen aufgebläht und endlich in den Fluss getrieben, wo sie langsam versinken würden. Und die wackeligen Winden würden diesem Sturm nicht standhalten. Sie würden einfach umkippen, in die Schächte fallen, und die Eimer würden gegen die Wände scheppern und dann verschwinden.
    Nach dem Wind käme der Regen. In den Erdhügeln würde es gluckern wie in einem heißen Brunnen. Und in den Bergenwürden die Quellen voller und voller laufen, bis sie eines Tages als Wasserfälle über die Felswand stürzten. Und dann würde es schneien. Harriet konnte sich noch gut an die feuchte Klebrigkeit des neuseeländischen Schnees erinnern, an die dicken, fetten Flocken und daran, wie schnell, wie reichlich und wie leise sie fielen, wie der Schnee vom Wind verweht und zu Bergen aufgetürmt wurde und immer weiter fiel und den Himmel füllte. Hier würde er das Tal verriegeln. Am Flussufer würde er zu Wällen anwachsen, höher als ein Mann, mächtiger als all die längst verschwundenen Männer, dieser dicke, fette Schnee … Er hätte nichts anderes im Sinn, als all das, was hier versucht worden war, zu vernichten. Mit seinem Gewicht würde er alles wieder einebnen. Die Erde würde zu einer makellosen, glitzernden Kruste gefrieren.
    Noch vor Tagesanbruch wusch Harriet sich in ihrem Zelt, faltete die rote Decke zusammen und zog ihre Kleider an, die inzwischen den Geruch von Kokatahi angenommen hatten. Sie hatte sich im Manuka-Gestrüpp ein Loch als Abort gegraben. Obszön schillernde Dungfliegen sammelten sich auf den Ausscheidungen ihres Körpers. Buschratten quiekten zwischen den Manuka-Zweigen, aber es machte Harriet nichts aus, von ihnen angestarrt zu werden; was sie fürchtete, war das Starren der Männer, dieses Starren, das ihr sagte: »Jetzt bist du eine von uns, du armes Luder, du Goldgräberfrau, du elendes, hilfloses Stück Fleisch.« Sie versuchte, ihren Rock ein wenig hochzuheben, während sie sich hinhockte, nicht nur wegen der Männerblicke, sondern auch, um sich vor sich selbst zu verbergen. Sie hatte das Gefühl, an einen Ort gekommen zu sein, wo ihr Körper zu sterben begann.
    Morgens machte sie Feuer, kochte Tee und hockte sich mit Joseph ans Feuer. Sie aßen Speck oder Salzfisch, und Harriet sah, wie Josephs Augen häufig zu seinen Abraumhaufen und denen der benachbarten Claims wanderten. Vielleicht war da ja irgendwo doch noch ein Stäubchen Gold verborgen, und er hatte es nur übersehen. Er gestand ihr, dass er geträumt habe, er werde blind. In diesem Traum hatte er versucht, die Erde mit seinen Händen zu lesen, aber überall um sich herum konnte er das Lachen der Männer hören. »Ein blinder Goldsucher! Wenn das

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