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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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einer Matratze schlief oder nur auf der harten Erde oder vielleicht sogar in einer Hängematte, weil er ein Fischer war und Netze knüpfen konnte.
    Doch er kehrte nicht zurück, und nachdem Harriet fünf oder sechs Minuten gewartet hatte, kam sie sich albern vor. Sie nahm den Beutel mit dem Gemüse und ging hinunter zum Fluss. In Gedanken beschäftigte sie sich schon mit der schönen Brühe, die sie kochen, und dem langen Brief, den sie ihrem Vater schreiben würde.
II
    Mit Pickel und bloßen Händen legte Pao Yi den Eingang zu seiner Höhle Stein um Stein frei. Er nahm eine kleine Öllampe, die mit einer gleichmäßigen blaugelben Flamme brannte, und betrat die Höhle. Die Lampe wärmte und leuchtete zugleich.
    Pao Yi legte sich, auf den Ellbogen gestützt, auf die Erde und zündete seine Opiumpfeife an. Er sah, wie die Wände der Höhle zu schwellen und zu leuchten begannen. Eine Ahnung von der herrlichen Seltsamkeit der Welt bewegte ihn.
    Er träumte von einer Lindenallee. Er roch den Duft der Bäume und sah seine eigenen Füße, die unter den Bäumen herliefen, und er spürte die Harmonie aller Dinge.
    Irgendwo weit weg warf ein Mann in einem scharlachroten Boot auf dem Reihersee ein Fischernetz in die Luft, doch der Mann war nicht er selbst. Krebse krochen in das Netz, es wimmelte von Tentakeln und Krallen und Augen wie Saatperlen, doch er durfte sie nicht verkaufen, als der Mann ans Ufer ruderte, denn er war nicht der Fischer, er war nicht dort; er wanderte die lange, liebliche Straße unter den Linden entlang.
    Immer weiter lief er. Und er sah, dass eine Frau, stattlich wie die Bäume, auf schlanken, staubigen Füßen Schritt mit ihm hielt, und er berichtete ihr in seiner eigenen Sprache, wie einmal ein Heuschreckenschwarm zum Reihersee gekommen war und die Stangenbohnen gefressen und die Wasserräder verstopft hatte. Er erzählte ihr, wie einfallsreich er gewesen war, wie geschickt er sich angepasst hatte. Er hatte Heuschrecken mit dem Netz gefangen, sie in Öl geröstet, mit Salz und Sesam bestreut, und sie waren genauso wohlschmeckend wie knuspriges gebratenes Seegras, eine wahre Delikatesse, und bald sammelten auch die Nachbarn Heuschrecken, aßen sie und priesen Pao Yi, den Bruder der Rechtschaffenheit, weil er solch ein köstliches Rezept erfunden hatte.
    Die Frau lächelte, während sie neben ihm herlief, lächelte über seine Geschichte von den gerösteten Heuschrecken, und Pao Yi spürte den Reiz dieses Lächelns, das nur durch ein winziges Detail beeinträchtigt wurde. Er vermochte diesen Makel nicht zu benennen, spürte aber, wie er ein immer stärkeres Begehren in ihm weckte.
    Die Lindenallee erstreckte sich vor den beiden Wanderern als ein endlos mäanderndes, schwankendes grünes Band, und Pao Yi wusste, dass dieser Garten, in den die Allee gepflanzt worden war, solch unvorstellbar gewaltige Ausmaße hatte, dass er sehr, sehr lange in ihm umherwandern könnte, ohne jemals denselben Weg zu nehmen, und immer wäre da die Frau, die sich auf ihrer eigenen Reise befand – getrennt von ihm und dennoch durch irgendeinen Zufall im Gleichschritt mit ihm. Und er würde sich über jeden gesprenkelten Sonnenfleck zwischen den Bäumen freuen, der ihm ihr Gesicht offenbarte, und würde sein verwirrtes Hirn nach einer weiteren Geschichte durchforsten – einer Geschichte wie der von den gebratenen Heuschrecken mit Sesamkörnern, die er ihr erzählen könnte, damit sie lächelte.
    Draußen wurde es dunkel. Die Öllampe brannte flackernd nieder, Pao Yi hatte seine Pfeife zu Ende geraucht und legte den Kopf auf den harten Boden.
    Er wanderte immer noch die Allee seiner Träume entlang, und er dachte, dort, wo die Bäume endlich aufhörten, würde er einen Teich entdecken, in dem ein rosafarbener Karpfen unter breiten Seerosenblättern seine Kreise zog. Und er würde der Frau dabei zusehen, wie sie sich über das Wasser beugte und ihre Füße zwischen den Fischen wusch.
III
    Jeden Morgen arbeitete Joseph weiter am achten Schacht und der dazugehörigen Drainage. Eimer um Eimer holte er die Erde mit der provisorischen Winde hinauf, doch weder machte er sich die Mühe, die oberhalb der blauen Tonschicht ausgehobene Erde zu waschen, noch karrte er sie hinunter ans Wasser; er kippte sie einfach am Schachtrand aus, wo sie sich zu Bergen türmte und in der späten Sonne und im trockenen Wind hart wurde.
    Zwar drehte sich die Handwinde ununterbrochen und schaffte die schweren Eimer nach oben, aber Joseph erledigte diese

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