Die Farbe der Träume
Neuseeland ein. Sie kauften Land und Vieh, so viel sie bekommen konnten, und machten sich umgehend an die Arbeit. Sie ließen endlos Zaunpfähle setzen und wussten schließlich selbst nicht mehr, wo ihr kilometerlanger Zaun begonnen hatte und wo er endete. Das Einzige, was man in diesem Teil der Okuku-Ebene außer dem Seufzen des Winds hören konnte, war das Blöken der Orchard-Schafe. Für Toby war sein Grund und Boden ein Kontinent. Quadratkilometerweise wurde Tussockgras umgepflügt. Es wurde Klee für Tobys Pferde ausgesät, die ihre Tage damit verbrachten, auf immer neuen Wegen wild durchs Gelände zu galoppieren, und die erst, wenn die Stille der Nacht sie zur Ruhe kommen ließ, innehielten, um am saftigen Grün zu schnuppern und zu knabbern, das im Mondschein schimmerte.
Toby und Dorothy Orchard bauten ein Haus von erstaunlicher Schönheit mit dem, was sie vorfanden: Totara-Kiefern aus dem Busch, Schiefer aus den Schluchten, Kalkfarbe aus einem eigens angelegten kleinen Steinbruch. Junge Eichen, Weiden, Pappeln und Ahornbäume waren über die endlose Ebene gekarrt und in der Regenzeit ausgepflanzt worden und gediehen prächtig. Rund um das Orchard-Haus war es inzwischen kühl und schattig, und Eisvögel bauten ihre Nester dort.
Innen war das Haus stattlicher und behaglicher als seine weiß getünchte hölzerne Schale vermuten ließ. Die Steinkamine, die mit duftendem Apfelbaumholz befeuert wurden, trugen, nicht ganz stilecht, das eingemeißelte Familienwappen der Orchards. Sämtliche Hochzeitsgeschenke der beiden – Mahagonikommoden und Ankleidespiegel, Betten mit schmiedeeisernen Rahmen und Kerzenwandleuchter, Regency-Tafelsilber und edles französisches und deutsches Porzellan – hatten die gleiche Reise durchlitten wie Lilian Blackstones unseliges Teeservice, sie aber gut überstanden und schmückten nun die großen Räume. Eine Hausangestellte, die Jane hieß, von den Orchards jedoch eigentümlicherweise Janet genannt wurde – vielleicht, um etwas Besonderes aus ihr zu machen? –, hielt alles sauber und blitzblank. Zu Weihnachten schmückte Dorothy die Wände mit Farnwedeln und zog honigfarbene Kerzen aus Bienenwachs, während auf Tobys Anweisung Gänse geschlachtet und gerupft wurden.
»Unsere Welt«, flüsterte Dorothy, während sie eine Weihnachtskerze nach der anderen anzündete. »Unsere Welt, unsere Welt, unsere neue Welt.«
Sie waren nicht allein darin. Sie hatten einen Sohn namens Edwin, den sie beinahe an eine andere Welt verloren hätten.
Es war in ihrem ersten neuseeländischen Sommer gewesen. Edwin Orchard lag in seiner Binsenwiege auf der Veranda vom Orchard-Haus. Es wehte ein heißer, trockener Wind, der die frisch gepflanzten Bäumchen zauste, an den Laken auf der Wäscheleine zerrte und immer wieder kleine Staubwolken aufwirbelte. Edwins Kindermädchen Pare, eine junge Maori, wachte über die Wiege, doch mit der Zeit achtete sie immer weniger auf die Wiege und immer mehr auf den Staub und die seufzenden Bäume. Pare wähnte den unsichtbaren Gott des Waldes ganz in der Nähe, und sie zitterte wie Espenlaub. Ihr Kopf war benommen und verwirrt, so als wäre ihr der Wind in den Schädel gefahren. Sie blinzelte und rieb sich die Augen. Ein Nagel im Verandaholz funkelte unwirklich in der Sonne und hielt Pares Blick gefangen, als sie plötzlich aus dem Augenwinkel ein grünes Wesen auf sich zu tapsen sah.
Pare schrie. Wie vom Wind getrieben, floh sie ins Haus, Edwin in seiner Wiege war vergessen. Sie schloss sich in der Küche ein und stopfte Handtücher in die Ritze unter der Tür. Bilder von Ngārara, dem Riesenreptil mit der Flammenzunge, verfolgten sie, jenem Wesen, von dem so viele Geschichten der Maori erzählten und das häufig in ihre Träume kroch. Sie malte sich aus, wie dieses Ungeheuer ihr ins Haus folgte und sich auf sie warf. Sie wusste, dass die Vergewaltigung durch Ngārara das Schrecklichste war, was einer Frau widerfahren konnte.
Pare barg ihr Gesicht in den Händen. Sie hörte nur noch das Wüten des Windes, der an den Fensterläden in der Küche rüttelte und an den Dachsparren zerrte. Das also hatte der Wind verkündet, dachte sie, die Ankunft von Ngārara auf der Orchard-Farm. Sie konnte nicht auf die Veranda zurück. Sie hätte nach Toby Orchard gerufen, damit er Ngārara mit seiner Flinte erschoss, aber sie wusste, dass er irgendwo weit weg auf den Feldern war. Auch Dorothy und Janet waren nicht zu Hause, sondern in Dorothys Kutsche unterwegs nach Rangiora, um
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