Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
da?
    »Ja«, antwortete sie. »Ich bin hier, E’win. Ich bin hier.«
    Johnboy Shannon grub ein tiefes Loch zwischen den versunkenen Bäumen, und da hinein legte er Pares Körper, in ihre Decke gewickelt und die Arme über ihr Bündel gekreuzt. Er bestrich ihre Stirn mit den letzten Resten der Ockerfarbe und bedeckte sie dann mit feuchter, schwarzer Erde.
    Wie er so ganz allein da im strömenden Regen stand, glaubte er, etwas singen oder sagen zu müssen, und so sang er das Wiegenlied, das sie ihm beigebracht hatte:
    »Kei whea
    Te ara
    Ki raro?
    Kei whea
    Te ara
    Ki raro?«
    Wo ist der Weg zum Land des Schlafs?
    Die einzigen Dinge, die er sich von ihr nahm, waren ihr Haifischzahnmesser und ihre Paua-Muschelschale. Er spürte, dass Pare nichts dagegen gehabt hätte. Er stellte sich vor, dass er eines Tages mit diesen beiden Gegenständen sein eigenes Leben würde retten können.

D IE F LUT
I
    Harriet begann einen Brief an ihren Vater Henry Salt. Sie wusste, dass sehr viel Zeit vergehen würde, bis sie eine Gelegenheit hätte, ihn aufzugeben, aber sie schrieb ihn trotzdem, weil sie gern mit ihrem Vater reden wollte.
    Gestern war ich an einem Wasserfall. Ich bin auf der Suche nach einer Maorifrau, die Pare heißt, und dachte, sie wäre vielleicht dort, irgendwo auf einem hohen Felsvorsprung am Wasserfall, aber da war niemand. Trotzdem bin ich eine ganze Weile dort geblieben. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass dieser Wasserfall so heftige Gefühle in mir auslöste – ich war gleichzeitig hingerissen und eingeschüchtert. Das Wasser kommt aus einer Felsspalte tief im Herzen des Gebirges und stürzt sich mehr als dreißig Meter tief in den Fluss, wo es, wie der Dichter Coleridge so wunderschön sagte, eine Wirbel-Rose aus weißer Gischt erschafft, die ununterbrochen neu erblüht und »hartnäckig wiederaufersteht«.
    Ich sitze den ganzen Tag am Fluss und wasche Gold, während stetiger Dauerregen aus einem zornigen Himmel fällt, und jeden Tag ist etwas in meiner Waschpfanne. Ich habe schon ein paar Stücke ausgegraben, die größer sind als mein Daumenknöchel. Und ich merke, wie ich allmählich dem »Goldfieber« erliege, das schon Joseph gepackt hat. Ich merke, wie aufgeregt ich jeden Morgen die neuen Funde erwarte. Denn ich begreife jetzt, welch absolut faszinierende Anziehungskraft das Gold ausübt. Es sind nicht nur sein Gewicht und sein Glanz, die mich begeistern, sondern seine endlosen Verwandlungen, seine Macht, das zu werden, was man sich wünscht. So wurde das Gold, das ich gestern fand, zu einem Wagen mit Geschirr, den mein Pferd Billy mit seinem hohen Trab ziehen wird. Heute träume ich von einem neuen Haus an unserem alten Bach, einem Haus aus Holz, nicht aus Lehm u nd nicht den Winden ausgesetzt. Aber Joseph sehe ich nicht in diesem Haus. Ich sehe nur mich. Und dann male ich mir aus, wie ich an eines der Fenster trete und hinausblicke, und da sehe ich Dich , wie Du mit einem Koffer in der Hand den Weg entlangkommst, der zum Gartentor führt, und über die Klarheit des neuseeländischen Lichts in Begeisterung ausbrichst.
    An dieser Stelle legte Harriet den Brief beiseite, nahm ihn sich aber am nächsten Tag erneut vor, denn nun, da sie ihn begonnen hatte, merkte sie, dass es sie drängte, alles zu beschreiben, was sie sah, und auch alles, was sie fühlte. Plötzlich schien es lebenswichtig zu sein, die Dinge genau zu protokollieren, denn wenn sie es nicht täte, würden sie niemals irgendwo aufbewahrt werden.
    Sie beschrieb Pao Yis Gemüsegarten – wie sich die Farben darin veränderten und dennoch stets zu leuchten schienen, selbst bei schwerem Regen –, und sie beschrieb Pao Yi, dessen Gebaren »mir sehr ungewöhnlich oder sogar ziemlich besonders erscheint, weil er so schweigsam und zurückhaltend ist«.
    Dann erzählte sie von den Suppen, die sie aus seinem Gemüse kochte, »indem ich meinen Topf in ein wackeliges kleines Gestell über dem Feuer hänge«, und dass sie das Leckerste seien, was sie jemals gegessen habe, besser als die herrlichen Rindfleisch-Nieren-Aufläufe, die in den Assembly Rooms in Norwich serviert wurden, besser als die saftigen Austernpasteten, die man bei Wells und Brancaster kaufen konnte.
    Was sie da geschrieben hatte, war, wie sie jetzt sah, doch lächerlich übertrieben, aber sie mochte es nicht durchstreichen; denn etwas an diesen Suppen empfand sie als ganz außerordentlich. Sie hätte gern etwas Brot dazu gegessen – auch Lilians Brot wäre ihr recht gewesen

Weitere Kostenlose Bücher