Die Farbe der Träume
dieser scharfe Laut, der die Luft durchschnitt, dazu beitragen, ihren Kopf oben zu halten. Aber sie wusste, dass sie gegen die eisige Strömung machtlos war. Und was war das für eine Kälte, die ihr in die Adern kroch! Kein schneereicher Winter war jemals so schrecklich gewesen wie diese Kälte, die sie jetzt gefangen hielt. Harriet wusste, dass sie, selbst wenn sie sich gegen den Sog der vollgesogenen Röcke stemmen könnte, gegen diese Kälte keine Waffe besaß …
Es sei denn …
Es sei denn, sie nähme ihre Stimme als Waffe, ließe ihre Eisesrufe in die Luft aufsteigen. Und so nahm sie all ihren Atem zusammen und versuchte, diese Schreie ganz weit hinauszuschicken, jeder einzelne wie der hohe Ton einer Flöte.
Und gerade, als sie wieder Wasser schluckte und ihr die Stimme erstickte, spürte sie, dass sie gegen etwas Weiches, Nachgebendes geschleudert wurde, etwas wie ein Binsendickicht, und dieses Dickicht hielt sie fest, während sie gleichzeitig sehen konnte, wie die Strömung an ihr vorbeischoss. Sie streckte den Arm aus, versuchte, dieses elastische Ding zu packen, und sie bekam es zu fassen und merkte, dass es eine raffinierte Struktur hatte, ein Muster, von dem sie wusste, dass Menschen es erdacht hatten und nicht die Natur. Und sie suchte nach einem Wort dafür, suchte und suchte, während sie sich von dem Ding einhüllen ließ. Und sie merkte, wie ihre Röcke sich bauschten und allmählich nach oben trieben, als wären sie und auch Harriet selbst mit einem Mal schwerelos.
Dann fiel ihr das Wort ein.
Netz.
III
Sie dachte, der Himmel wäre trotz des Regens eher hell, doch jetzt sah Harriet, dass sie in eine absolute Dunkelheit starrte.
Sie hörte nichts.
Sie schloss die Augen. Sie dachte, so sei der Tod: dunkel und geräuschlos. Aber nach einer Weile spürte sie noch etwas anderes: Hitze. Sie befand sich immer noch in ihrem Körper, und dieser Körper schien zu brennen.
Sie öffnete erneut die Augen, und sie sah – oder glaubte es jedenfalls – ein Gesicht ganz nah vor ihren offenen Augen. Ein Gesicht, das sie nicht erkannte. Sie starrte es an und dachte, es lächele ihr zu. Doch in diesem Lächeln schien eine solch unermessliche Traurigkeit zu liegen, dass es zu dem Gesicht von jemandem gehören musste, der gekommen war, sie in ihrem Sarg zu beweinen. Sie wollte fragen: »Wer sind Sie?« Dann fiel ihr ein, dass sie höchstwahrscheinlich tot war und die Toten keine Stimme hatten. Und so ließ sie sich wieder in Schlaf sinken.
IV
Harriet drehte den Kopf und sah ein kleines Feuer.
Die unaufhörliche Bewegung dieser Flammen faszinierte sie, denn was bewegte sie? Konnte es sein, dass Flammen »lebendig« sind?
Sie sah Schatten, Umrisse. Sie bewegten sich, oder aber sie bewegten sich überhaupt nicht, und nur das Feuer warf seinen flackernden Schein über oder hinter sie und täuschte so Bewegung vor. Sie wartete, um zu sehen, was es war, und während sie wartete, fühlte sie sich fortgezaubert in einen Traum vom Lehmhaus, in dem Lilian an dem schwelenden Herd rüttelte und gleichzeitig fluchte und weinte, und sie selbst, Harriet, verzierte die Kuchen, die Lilian gebacken hatte, und auf einen Kuchen legte sie einige Belladonnabeeren. Lilian drehte sich um und sah die Belladonnabeeren, doch anstatt zu protestieren, trocknete sie sich die Augen an ihrer Schürze, lächelte verschwörerisch und nickte, und ihr Haar war wie ein geschlungenes Seil. »Das Belladonna ist für ihn«, verkündete Lilian. »Eine sehr schöne Idee. Wulla .«
Dann erwachte Harriet und fühlte, wie ihr Kopf angehoben und eine Tasse an ihre Lippen gesetzt wurde, und sie nahm einen Schluck. Sie wollte fragen: »Ist das Belladonna?« Aber sie hatte immer noch keine Stimme und konnte nicht zweifelsfrei entscheiden, ob sie auch wirklich nicht tot war oder träumte. Das Getränk war warm und schmeckte sehr stark nach Blumen oder Kräutern, und sie fühlte, wie es in sie hineinlief und die leeren Stellen innen in ihr auffülllte, und das war der Moment, in dem ihr Gedächtnis zurückkehrte, und sie fragte: »Lady. Wo ist Lady?«
Nichts geschah. Dann sagte eine Stimme: »Lady? Schwarz, weiß, Hund?«
»Ja.«
»Flut kam«, sagte die ruhige Stimme von Pao Yi. »Lady weg.«
V
Pao Yi hatte an seinem Zwiebelbeet gestanden, als die Flut kam.
Seit dem Tod seiner Eltern am Wehr achtete er sehr aufmerksam auf die wechselnden Launen von Flüssen oder Seen, in deren Nähe er sich aufhielt. Und deshalb hatte er auch das Einsetzen der Flut
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