Die Farbe der Träume
im fernen Styx-Tal wahrgenommen und wartete nun darauf, was sie wohl hier anrichten würde. Er hätte gern noch sein Netz eingeholt, doch dafür reichte die Zeit nicht mehr.
Als er die Wasserwand anrücken sah, klopfte sein Herz wie wild. Obwohl sein Garten auf einem Plateau oberhalb des Flussufers lag, zog Pao Yi sich in seine noch höher gelegene Hüttezurück. Er wusste, dass ausgetrocknete Bachbetten in Neuseeland binnen Sekunden zu reißenden Flüssen werden konnten und große Flüsse sich in einer einzigen Regenzeit völlig neue Täler gruben.
Eine Riesenwelle nach der anderen rollte heran und brach sich donnernd, die Ufer verschwanden, neue Wellen folgten, türmten sich auf und kippten am höchsten Punkt vornüber, und gleichzeitig stieg unaufhaltsam der Wasserpegel. Pao Yi begriff, dass es mit dem alten trägen Kokatahi-Fluss vorbei war – für einige Monate, für immer vielleicht? Der neue Fluss würde breit und zornig und schnell sein. Und vor seinem inneren Auge sah Pao Yi, wie der Strom sich auf die Goldgräberfelder in Kokatahi und Kaniere werfen, die Müllhaufen plattmachen, die Zelte und Baracken wegreißen, in die Schächte und Bohrlöcher laufen und alles mit sich nehmen, alles Umgestürzte, Kaputte, Ertrunkene ins Meer spülen würde.
Und da begriff Pao Yi auch, dass dies das Ende seines kleinen Unternehmens war.
Viele Goldgräber würden ertrinken, und der Rest würde alles an sich raffen, was die Flut übrig gelassen hatte, und sich wieder nach Hokitika aufmachen. Es würde keine Kunden mehr für sein Gemüse geben, alles würde in der Erde verrotten.
Er warf einen Blick auf die Pflanzen, auf all die säuberlichen Reihen, auf seine Porreestangen, die wie kleine Fontänen aussahen, auf die leuchtende Rote Bete. Nicht Angst vor der Zukunft erfüllte ihn, sondern ein sentimentaler Schmerz – über die Pflanzen und die maßvolle Schönheit des Gartens, den keiner je zu Gesicht bekommen hatte, nur er selbst und die Engländerin. Er sann gerade darüber nach, wie sein einförmiger Alltag, der ihn auf so eigenartige Weise zufrieden machte, sich ändern würde, als er plötzlich vom Wasser her Schreie hörte.
Pao Yi holte ein Seil, band sich das eine Ende um die Hüfte und knüpfte das andere Ende an einen Baum. Die Kälte des Wassersüberraschte ihn, und er trieb sich zur Eile an. Er hielt sich nur am Seil fest, nicht am Netz, um es nicht zu überlasten, und fühlte plötzlich, wie seine Füße den Halt verloren und er zu schwimmen begann. Er schwamm wie ein Frosch, und seine starken, drahtigen Beine krümmten sich komisch beim Wassertreten.
Harriet Blackstone klammerte sich noch immer an sein Fischernetz, aber ihr Kopf war zur Seite gekippt, und ihr Gesicht bleich wie das einer Ertrunkenen.
Pao Yi hob sie etwas an, legte ihr das Seil um die Taille, knotete es so, dass sie und er zusammengebunden waren, und als er sich jetzt umdrehte, um zurückzuschwimmen, merkte er, wie schwer sie war, und wusste nicht, ob er vielleicht doch zu spät gekommen war. Er schwamm auf dem Rücken und trat mit seinen Froschbeinen so heftig, wie er nur konnte, sie lag auf ihm, und damit ihr Kopf nicht ins Wasser rutschte, legte er ihr Gesicht auf seins.
Endlich fühlte er festes Land im Rücken, und er merkte, wie steil dieser neue Uferhang war. Vorsichtig richtete er sich auf und drehte sich um. Er wollte nicht bei dem Versuch, an Land zu kriechen, vornüber kippen. Er befreite Harriet vom Seil und legte sie ins Gras, und er sah, dass der Regen, der immer noch fiel, Muster in ihre verdreckte Kleidung zeichnete.
Mit dem Seil um den Bauch und vor Kälte zitternd kniete Pao Yi sich neben Harriet, drehte sie sanft um und versuchte, das zu tun, was er in seinen Träumen so häufig mit den Körpern von Chen Lin und Chen Fen Ming getan hatte – er wollte ihr Ertrinken rückgängig machen .
Er hatte es immer so deutlich vor sich sehen können, dieses Wunder der Wiederbelebung: wie die aufgequollenen Köpfe und dünnen Leiber Seite an Seite am Reihersee lagen und wie er mit seinen starken Händen ihre Brustkästen presste, um das Wasser aus ihren Lungen zu zwingen, wie er presste und presste und schließlich sah, dass das Wasser sich aus ihren Mündern ergoss und sie wieder lebendig wurden – seine geliebten Eltern,der aufbrausende Lin und die eigensinnige Fen Ming – und anfingen zu fluchen und zu spucken.
Und dann hob er sie auf, nahm sie in seine Arme, und sie waren leicht wie Stoff, und er trug sie zu ihrem
Weitere Kostenlose Bücher