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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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»das Lehmhaus«, und in dieser Anonymität lag Josephs Zugeständnis, dass esnur vorläufig war, dass er es, zumindest um Lilians willen, eines Tages durch etwas Besseres ersetzen würde.
    Joseph Blackstone hätte nur zu gern etwas vollbracht, das seiner Mutter gefiel. Etwas Maßgebliches. Etwas, das alles Schlechte, alles, was ihm in der Vergangenheit misslungen war, ungeschehen machen würde. Wenn ihm das gelänge, dachte er, dann würde er ausruhen. Was er mit ausruhen meinte, hätte er allerdings nicht genau zu sagen gewusst.
    Während er dort auf dem harten Boden der geschützten Hochebene saß, fiel ihm plötzlich wieder ein, wie er als Kind geschrien hatte. Er hatte Dinge angeschrien, die sich auf ihn zu bewegten: einen Ball, den jemand warf, einen Reifen, der ihm entgegenrollte, einen Vogel, der plötzlich im Garten aus einem Baum flog. Er schrie den rotgelben Kreisel an, ein Geschenk zu seinem siebten Geburtstag. Die Art, wie das Rot und das Gelb beim Drehen zu einer einzigen unbeschreibbaren Farbe wurden, die Art, wie der Kreisel ohne Vorankündigung seine Richtung änderte, all das brachte ihn zum Schreien.
    Lilian ertrug dieses Schreien nicht. Sie presste ihm die Hand auf den Mund. Manchmal roch ihre Hand nach Kartoffelschalen, und manchmal roch sie nach Schokolade oder Kölnisch Wasser. Lilian drohte, sie werde ihm die Lippen zusammenkleben. Sie erklärte, Schreien sei »ordinär«. Arme Leute würden schreien, aber nicht der Sohn eines Viehauktionators, nicht der Enkel eines Pfarrers.
    Eines Abends gingen Lilian und Roderick Blackstone mit Joseph in den Zirkus, und er sah Akrobaten, die durch die Luft flogen. Er spürte, wie Lilians Hand sich fest auf seinen Mund legte. Er versuchte, still zu sein. Die Kostüme der Akrobaten waren mit Pailletten besetzt und sahen aus, als wären sie aus Glas und könnten zerbrechen. Dann kam ein Mann mit einer Peitsche in den Ring, und der Mann jagte drei zähnefletschende Tiger im Kreis herum, und angesichts dieser Tiger schien Joseph nichts anderes übrig zu bleiben, als sie anzuschreien.
    Lilian packte ihn beim Kragen und marschierte mit ihm hinaus in die Dunkelheit, marschierte durch mondbeschienene Gassen den ganzen Weg nach Hause, fesselte ihn an sein Bett und band ihm den Mund mit einer alten Schärpe zu, die nach Kampfer roch. Sie erklärte, wenn er noch einmal schrie, würde er nicht mehr ihr Sohn sein.
    Nach dem Abend im Zirkus versuchte er, nie mehr irgendetwas anzuschreien, alle starken Gefühle in sich zu versiegeln. Wenn er einen Schrei aufsteigen fühlte, rannte er weg und biss sich in den Arm oder ins Knie. Manchmal versteckte er sich im Verschlag unter der Treppe, wo die Besen und Bürsten aufbewahrt wurden. Er starrte sie an und wünschte sich, ein Besen oder eine Bürste zu sein, wünschte sich, ein Ding wie sie zu sein, das keine Gefühle hatte.
    Als sein Vater starb, spürte Joseph, dass er gern wieder schreien würde. Er konnte das Bedürfnis nur beherrschen, indem er nicht an die Straußen und den verstümmelten Körper auf dem Feld dachte. Mit der Zeit gelang es ihm auf diese Weise, die tatsächlichen Umstände von Roderick Blackstones Tod vor sich selbst und vor anderen zu verbergen. Er sprach einfach nur von »seinen letzten Leidenstagen«, als wäre sein Vater an einer langwierigen Krankheit gestorben. Und so gelang es ihm, stumm und kontrolliert zu bleiben.
    Joseph erhob sich. Heute zeigte sich der Himmel über dem Lehmhaus in einem überraschend tiefen Blau, einem exklusiven, unenglischen Blau, das in ihm die Sehnsucht nach dem Sommer weckte. Er ging zum Wasser hinunter, hockte sich hin und hielt die Hände ins eiskalte Wasser. Nach der Schneeschmelze war der Harriet-Bach angeschwollen und fast schon ein reißender Fluss. Wenn erst einmal der Graben zu seinem Teich fertig war, würde er sich sehr schnell füllen. Joseph hatte gehört, dass man irgendwo am Ashley Regenbogenforellen kaufen konnte, und beschlossen, sie in seinem Teich auszusetzen.
    Er wischte sich die Hände am Tussockgras ab und lief amBach entlang zurück zum Lehmhaus. Wo die fest verwurzelten Büsche auf der anderen Seite direkt bis ans Ufer reichten, hatte das wilde Wasser in seiner neuen Raserei einen anderen Weg gewählt, wodurch ein schmaler Schlammstreifen freigelegt war, auf dem blaue Bergenten herumwatschelten. Joseph blieb stehen und sah ihnen zu. Irgendwann im Laufe des Winters würde er seine Flinte nehmen und alles Wildgeflügel schießen müssen, was ihm vor den

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