Die Farbe der Träume
am Teichrand irgendetwas zum Schneiden gab. Aber da war nichts außer trockener Erde und dem vom Südwestwind ausgebleichten Tussockgras.
Joseph lief mehrmals hin und her, weil er dachte, die Leine käme los, wenn er die Richtung änderte. Aber das Ding am anderen Ende bewegte sich mit. Josephs Gesicht war mittlerweile nass vor Schweiß, Panik befiel ihn. Er fürchtete, die Kreatur, die seine Nymphe geschnappt hatte, wäre vielleicht unbesiegbar. Bis in die Nacht hinein könnte er mit ihr kämpfen, und sie würde trotzdem unten im Teichschlamm verharren, fast so, alslockte sie ihn in die Tiefe, als könnte sie plötzlich so heftig an der Leine ziehen, dass er ins Wasser fiel.
Joseph kniete sich auf die Erde, legte die Angel neben sich, nahm ein Stück Leine in den Mund und begann, sie mit den Zähnen zu bearbeiten. Die Leine war aus Darm gemacht, und Joseph wusste, wie stark sie war. Aber er zerrte und nagte und kaute so lange auf ihr herum, bis er spürte, wie sie ausfranste. Und die zerfaserte Leine schmeckte salzig und bitter. Fast musste er sich übergeben, aber er hielt durch und machte weiter, bis er mit der Zunge fühlen konnte, dass sie nur noch an einem dünnen Faden hing. Und dann riss der Faden, und er spuckte aus und sah, wie die Leine im Wasser forttrieb, einen Moment auf der Oberfläche schwamm und schließlich unterging.
A LLERLEI G ESCHÄFTE
I
Lilian arbeitete jetzt unermüdlich im Gemüsegarten. Als der Spinat, den sie gesät und getreulich gegossen hatte, mit seinen dichten Büscheln schon fast ihre Stiefel überragte, fuhr sie mit den Händen durch die leuchtend grünen Blätter und sagte: »Weißt du was, Harriet, das sieht besser aus als alles, was in Parton wuchs.« Sie saß mit ausgebreiteten Röcken auf dem Boden in der Sonne und aß Karotten direkt aus der Erde. Sie sammelte unverdrossen Schnecken von den Salatköpfen und gab sie den Schweinen. Manchmal ging sie schon vor Sonnenaufgang hinaus, um die Glockenvögel singen zu hören.
Unterdessen rekonstruierte Lilian Blackstone im Geiste Rodericks Leben und Sterben. Und diese Rekonstruktion »nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten« stimmte sie ihrer Vergangenheit gegenüber versöhnlicher und machte sie empfänglicher für eine Zukunft in Neuseeland. Lange Zeit hatte die Vorstellung sie gequält, fünfunddreißig Jahre mit einem mittelmäßigen, verantwortungslosen Mann verheiratet gewesen und dann durch seinen ungelegenen und lächerlichen Tod einem unzumutbaren Schicksal ausgeliefert worden zu sein. Doch nun versuchte Lilian alles, was mit Roderick zusammenhing, in einem anderen Licht zu sehen.
Toby Orchard hatte bewundert, wie elegant der Viehauktionator die Mathematik benutzte; und jetzt begriff Lilian, dass die Mathematik oder das, was Toby ein Talent für die »wissenschaftliche Sprache« nannte, auch bei Roddys Wettgeschichten eine entscheidende Rolle gespielt hatte.
Er hatte diese Unternehmungen häufig als »Experimente« bezeichnet. Manchmal hatte er auch versucht, seiner Frau das Gesetz des Durchschnitts und dessen Regeln zu erklären, nämlich das »unzweifelhaft häufige Auftauchen der einzigen geraden Primzahl, also der Zahl 2 , in jeder zufälligen Auswahl von Zahlen, wie etwa denen, die den Pferden beim Winners’ Enclosure in Newmarket zugewiesen werden«.
Beim Pokerspiel, erklärte Roddy ihr, lege er kaum je eine niedrige 2 ab, »weil die 2 ein Magnet sein kann, der ein Doppel oder sogar eine dritte Replik ihrer selbst« anziehe, und er behauptete, nicht wenige Spiele dadurch gewonnen zu haben, dass er sich »ausschließlich auf die gerade Primzahl verlassen« habe.
Damals, als er ihr das erklärte, hatte Lilian nicht ein Wort von dem begriffen, was er da sagte, aber jetzt sah sie klar, dass Roderick zumindest ein System besessen und nicht einfach nur willkürlich und beliebig gewettet hatte, wovon sie immer ausgegangen war. Er hatte stets betont, er »studiere die Form« auf der Rennbahn, und er besaß auch, wie Lilian jetzt wieder einfiel, eine Kladde mit den Namen von über hundert Pferden und ihren Platzierungen in aufeinanderfolgenden Rennen. Sie hatte nie richtig begriffen, wozu das gut sein sollte, und erinnerte sich noch, wie sie einmal eingewendet hatte: »Wenn etwas in der Vergangenheit passiert ist, Roderick, heißt das doch noch lange nicht, dass es notwendig wieder passieren wird.« Aber jetzt wurde ihr klar, dass ihre Skepsis gegenüber der »Form-Kladde« falsch gewesen war. Denn kurz vor seinem Tod
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