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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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hatte sich sein Glück bei Pferdewetten zu wenden begonnen, was er als »die Kombination aus meinem Festhalten an der geraden Primzahl und der wachsenden Perfektionierung meiner Form-Kladde« deutete.
    Jetzt entschloss Lilian sich zu dem Glauben, dass ihr Gatte sich auf jeden Fall aus seinem Schuldensumpf befreit hätte, wenn er nicht das Opfer der eigenen wissenschaftlichen Neugier geworden wäre. Er ist auf dem richtigen Weg gewesen, sagte sie sich: Ich hätte auf seine Systeme vertrauen sollen. Er hätte uns gerettet.
    Und was seinen Tod anging, da schloss Lilian einen Handel mit ihrem Gedächtnis ab: Sie würde sich zwingen, über ihnnachzudenken, ihm ins Auge zu sehen, ihn Revue passieren zu lassen, soweit das überhaupt möglich schien, da sie ja nicht dabei gewesen war. Aber alles nur unter der Voraussetzung, dass es ihr gelang, dem Tod einen anderen Bezugsrahmen zu geben.
    An den reinen Fakten war allerdings wenig zu rütteln: Roderick Blackstone war auf einer Wiese von Straußen getötet worden. Die seltsamen Vögel gehörten einem unternehmungslustigen Norfolker Farmer, der reich zu werden gedachte, indem er die Federn an das Putzmachergewerbe verkaufte und »die anspruchsvollen Menschen im Lande, darunter auch Ihre Majestät, Königin Victoria in Sandringham höchstpersönlich«, mit dem »köstlichen Geschmack von Straußenfleisch« bekannt machte.
    Roderick, der solche Tiere noch nie gesehen hatte, war zu einem Besuch eingeladen worden, und der Anblick ihrer langen Hälse, der erstaunten Augen und der wippenden Federn hatte seine Neugier geweckt. Statt hinter dem Zaun stehen zu bleiben, während der Farmer kurz wegging, um einem Mutterschaf zu helfen, das sich in einer Brombeerhecke verfangen hatte, kletterte Roddy auf die Straußenwiese und lief zu den Vögeln.
    Neugierig, wie Strauße nun einmal sind, hatten sie Roderick sofort eingekreist und auf seinen Zylinder einzuhacken begonnen. Harte Gegenstände und alles, was glänzte (so hieß es später), faszinierten diese Tiere, und Roderick hätte auf jeden Fall seinen Hut abnehmen sollen. Er starb mit dem Hut auf dem Kopf. Und die Frage, wieso er den nicht abgelegt hatte, quälte Lilian noch lange danach und machte sie halb wahnsinnig. Er konnte doch nicht so starrköpfig sein und glauben, Anstand und Sitte würden es auch bei akuter Lebensgefahr gebieten, mitten auf einer Wiese den Hut aufzubehalten? Die Vorstellung war so lächerlich, dass Lilian vor Wut hätte schreien mögen.
    Die Sache mit dem Hut hatte nie eine wirkliche Erklärung gefunden – bis jetzt jedenfalls. Aber hier war sie nun endlich: Roderick hatte sich einfach auf so selbstlose Weise – als Wissenschaftler – für das Verhalten der exzentrischen Vögel interessiert, dass er ihre Absicht erst begriff, als es zu spät war, als ein Vogel ihm ins Gesicht stach und mit seinem langen Schnabel die halbe Nase wegriss, worauf er blutüberströmt und schreiend vor Schmerz hingefallen war und die Vögel ihn totgehackt hatten.
    Lilian entschied nun, dass Roderick mitnichten töricht, sondern absolut unerschrocken gehandelt hatte. Und für Toby Orchard, der ihr diese neue Sichtweise ermöglicht hatte, empfand sie eine überwältigende Dankbarkeit. In ihren Tagträumen sah sie sich zur Orchard-Farm reisen und Toby alles gestehen – das Glücksspiel, die Wetten, die Straußen, einfach alles. Und dann würde er seinen Arm um sie legen, während sie eine Träne vergoss. Sie dachte an das behagliche blaue Zimmer im Orchard-Haus und an den knarzenden Mahagonischrank und stellte sich vor, wie herrlich sie jetzt darin schlafen würde, mit Toby gleich nebenan auf demselben Stockwerk.
    Fürs Erste musste Lilian sich jedoch mit ihrem neuen Optimismus zufriedengeben. Weder sie noch Harriet noch irgendjemand sonst würde zur Orchard-Farm fahren können, und zwar aus dem einfachen Grund, weil der Esel nicht mehr in der Lage war, den Karren zu ziehen.
    Inzwischen wurde der Gang des Tiers immer unsicherer, und es iahte den ganzen Tag die Fliegen an. Es stand auf dem schmalen Streifen im Schatten des neuen Kuhstalls und starrte auf den Boden.
    Harriet versuchte, den Esel zu verwöhnen, ließ ihn weiche Radieschenblätter aus ihrer Hand fressen und streichelte seinen Nacken. Sie sah, wie er dann die Augen schloss, als gäbe ihm ihre Hand die lang ersehnte Erlaubnis zu schlafen oder sogar zu sterben. Joseph schwor, der Esel habe nur einen entzündeten Hals und werde bald wieder gesund sein, aber Harriet und

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