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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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nach Westen, die weiter führt als bis Waitohi.«
    »Nein«, sagte Harriet.
    »Und deshalb müssen wir unser armseliges Leben riskieren! Oder wir sterben in einem dieser Kähne, die von Nelson aus hinfahren. So oder so können wir verlieren. Da gibt’s doch einen Ausdruck für, oder? Einen Ausdruck dafür, dass man nie gewinnen kann?«
    »Vermutlich«, sagte Harriet. »Aber mir fällt er jetzt auch nicht ein.«
    Diese Gespräche wurden lästig, und Harriet wünschte, sie wäre wieder allein. Doch nachdem die Raststelle in Amberley hinter ihnen lag und es nach Nordwesten ging und die Straße steil anstieg, die Luft kälter wurde, der hohe Buschwald dichter heranrückte und die Sonne verblasste und endlich hinter den Bäumen verschwand, da merkte Harriet, dass sie lieber ein Teil dieser langsamen, schäbigen Karawane war als allein auf sich gestellt. Sie spürte, dass Billy nervös versuchte, nicht auf dem steilen Pfad zu rutschen oder zu straucheln, und sie sah, wie in der nahenden Dämmerung geisterhafte Schatten den Weg bevölkerten.
    Sie stieg ab, holte ein Seil aus dem Gepäck, knüpfte es an Ladys Halsband und hielt es zusammen mit den Zügeln fest. Sie wollte nicht, dass der Hund im Wald herumstromerte und Vögel oder kleine Tiere jagte, denn spätestens jetzt wurde ihr bewusst, dass Billy und Lady im Augenblick alles waren, was ihr auf der Welt noch blieb. Was auch geschehen mochte, sie durfte die beiden nicht verlieren.
    Sie stieg rasch wieder aufs Pferd und ritt weiter. Sie wollte nicht hinter den anderen Reisenden zurückbleiben. Im trüben Licht konnte sie schon die Puketeraki-Bergkette mit ihren zerklüfteten Spitzen erkennen, und dahinter türmten sich die hohen Gipfel der eigentlichen Südalpen, die sie so lange nur aus der Ferne betrachtet hatte.
II
    Auf der Hochebene des Waitohi-Flusses, noch vor dem langen Anstieg zum Hurunui, hatte ein tatkräftiger Mann namens Charlie Wilde zwei Hütten aus Kiefernbrettern und Tussockstroh gebaut. Er verlangte sechs Pennies pro Nacht für eine Matratze und eine Schale Suppe oder einen Teller Taubeneintopf und war bei den Goldgräbern auch wegen seiner lodernden Feuer bekannt, die er in einer Steinkuhle errichtete und die mit einer »blutroten Flamme« zu brennen schienen.
    Und als aus der Dämmerung Dunkelheit wurde, machte die kleine Kolonne hier Halt. Es gab einen kleinen Grasplatz für die Pferde, und die Reisenden saßen an Charlies Feuer, aßen von Blechtellern und spekulierten über das, was sie dort erwartete, wo der Fuhrweg aufhörte. Ein Wäldchen aus Manuka-Sträuchern und Drachenbäumen hinter den Hütten diente als Latrine, und Charlie Wilde beobachtete, dass nicht wenige der Männer, die den Hurunui überqueren wollten, ungewöhnlich oft dort im Gebüsch verschwanden.
    Charlie selbst war bis zum Grat des Bergsattels gekommen und hatte in die Schlucht hinuntergeschaut und gesehen, dass die Bergwände sich über dem lang gestreckten schmalen Tal fast zu schließen schienen, als wollten sie alles erdrücken, was dort unten zu atmen wagte. Und da hatte er sich umgedreht und kehrtgemacht. Er lebte seit neununddreißig Jahren in Neuseeland, aber nie hatte ihm etwas so viel Angst eingejagt wie der Anblick dieses Abgrunds, und er wusste, dass kein Gold der Welt ihn dazu bewegen könnte, dort hinabzusteigen. Und die Männer hier mit ihren Darmkrämpfen, die sie zwangen, sich zwischen das Manuka-Gestrüpp zu hocken, hatten noch nichteinmal gesehen, was sie erwartete, wussten aber immerhin, dass es sie erwartete. Sie hatten sich alles lebhaft vorgestellt – den schwindelerregenden Abstieg, die Dunkelheit und die Kälte in der Schlucht, das eisige Wasser, die gewaltigen Felsklötze, den verwirrenden Hall des Echos und das Gefühl, im Kreis zu laufen und sich zu verirren. Jeder Einzelne von ihnen wartete gespannt darauf, wie er sich wohl verhalten und ob er mit kühlem Verstand handeln würde, wenn er endlich dort oben stand.
    Nur Harriet hatte kein klares Bild von alledem. Die Orchards hatten ihr erklärt, der Versuch, den Hurunui zu überqueren, sei »schierer, absoluter Wahnsinn«. Doch was sie im Geiste vor sich sah, war nur eine Art Fortsetzung des Wegs, auf dem sie damals zu ihnen gereist war. Natürlich würde es einige steile, enge Kurven geben, und sie hoffte, Billy würde nicht stolpern oder stürzen und keine Steinlawine würde sie in die Tiefe reißen. Aber sie hatte sich die »Treppe zur Hölle« nicht so ausgemalt, wie sie tatsächlich war.
    Und

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