Die Farbe des Himmels
Erst wenn sie ein Buch aufschlug, begann für sie das wahre Leben. Manchmal beneidete Thea sie um die Fähigkeit, jederzeit mit allen Sinnen in eine Phantasiewelt abzutauchen.
»Deine Spaghettisoße ist phantastisch.« Thea aß mehr, als sie vorgehabt hatte. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie in diesem Sommer ohnehin keine Gelegenheit mehr haben, ihre Bikinifigur zur Schau zu stellen. Wenn die Soko sich noch ein paar Wochen hinzog, würde es Herbst sein, und sie konnte getrost ihren Weihnachtsurlaub anmelden.
»Ich könnte keinen Job machen, bei dem ich acht Stunden lang nichts zu essen bekomme«, murmelte Karolin mit vollem Mund.
»Ich hatte gar keine Zeit, ans Essen zu denken«, sagte Thea. »Ich sollte mich allmählich daran gewöhnen, aber so ein blutiger Toter schlägt mir noch für Tage auf den Magen.«
»Manchmal frage ich mich immer noch, warum du diesen Job überhaupt machst.« Karolin hatte ihre Gabel hingelegt und das Gesicht in die Hände gestützt.
»Keine Ahnung. Weißt du noch, als ich damals zur Schutzpolizei gegangen bin, wollte ich etwas bewegen, Gerechtigkeit durchsetzen, den Schwachen helfen. Lauter edle Ziele hatte ich.«
»Und die hast du jetzt nicht mehr?«
»Schon. Aber die Realität sieht meistens anders aus. Wie oft hab ich frustriert auf deiner Couch gesessen und dir die Ohren vollgejammert, wie sinnlos das alles ist. Trotzdem muss man weitermachen. Aber es ist wie schwimmen gegen den Strom. Als Streifenpolizistin war ich es irgendwann einfach Leid, meine Arbeitszeit damit zu verbringen, gewalttätigen Ehemännern Platzverweise zu erteilen. Und anschließend zu erfahren, dass seelisch und körperlich misshandelte Frauen ihren Peinigern freiwillig die Türen wieder öffnen, fest davon überzeugt, dass ihre Männer sich irgendwann doch ändern.«
»Vielleicht ist das Liebe?«
Thea folgte dem Blick der Freundin zu dem großen Bücherregal, wo die Pilcher-Romane standen.
»Nein. Das ist Abhängigkeit. Für mich hat das nichts mit Liebe zu tun. Mit Schwäche, ja. Und mit Missachtung der eigenen Person.«
Von der Leonhardstraße drang wütendes Geschrei durch das gekippte Fenster. Wahrscheinlich zwei Freier, die sich um eine Dirne prügelten.
Thea war müde. Sie griff nach ihrem Weinglas und dachte, dass sie besser einen Kaffee gebrauchen könnte. »Jetzt, bei der Kripo, sorge ich zumindest dafür, dass solche Schweine ihre gerechte Strafe bekommen. Leider werden wir immer erst gerufen, wenn es schon zu spät ist.«
»Wie war es eigentlich gestern Morgen?«, erkundigte sich Karolin. »Komm, erzähl schon.«
»Schön war’s jedenfalls nicht. Diese Blutlache unter seinem Kopf. Die Augen weit aufgerissen, dieser erstaunte, fast schon dümmliche Blick, als hätte er mit allem gerechnet, nur nicht damit, noch vor dem Frühstück erschlagen zu werden.«
Karolin verzog das Gesicht.
»Wir müssen den Mörder finden, Karo.«
»Und wenn es eine Frau war? Könnte doch sein. So eine, die jahrelang gequält wurde und jetzt endlich zurückgeschlagen hat.«
Thea schwieg eine Weile. Sie konnte sich Helene Hauser beim besten Willen nicht in so einer Rolle vorstellen. »Weißt du, wovor ich richtig Angst habe, Karo? Einen Mörder verhaften zu müssen, dessen Motiv ich verstehen kann. Wäre das nicht schrecklich?«
»Zum Beispiel, wenn ich damals im Heim die alte Burgstett umgebracht hätte, die uns immer mit der Gabel in den Rücken gestochen hat, wenn wir beim Essen nicht gerade saßen?«
Thea musste lachen. »Ja, so ungefähr. Mit dem Unterschied, dass man Kinder nicht ins Gefängnis sperrt.«
»Da bin ich aber froh. Ich war nämlich ein paar Mal kurz davor, zurückzustechen.«
»Siehst du, du verstehst, was ich meine.«
»Du meinst, Gerechtigkeit liegt im Auge des Betrachters?«
»So ungefähr. Ich glaube, Justitia macht es sich in ihrer Blindheit zu einfach. Sie müsste wenigstens ein Auge auf das Leid und die Beweggründe der Menschen werfen dürfen. Vielleicht würde ihr Urteil dann manchmal anders ausfallen.«
»Wie hältst du diese vielen Toten nur aus? Ich lese da lieber einen Krimi. Den kann ich ins Regal zurückstellen, wenn es mir zu viel wird.« Karolin schenkte Thea Wein nach.
»Ich versuche, emotional Abstand zu halten.« Thea nahm ihr Glas in die Hand, trank aber nicht. »Das Wissen, dass jedem Menschen jeden Tag praktisch alles mögliche Entsetzliche geschehen kann, muss ich verdrängen. Sonst würde ich es vor lauter Panik nicht wagen, morgens aus dem Bett zu
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