Die Farbe Des Zaubers
Räucherschale nach der anderen Seite fiel. Ihr Speer war in ihrer Hand. »Ich werde ...«
»»Wir werden«, verbesserte Mriga und war ebenfalls auf den Beinen. Es war seltsam, daß aus Augen, die so eisig vor Grimm waren, Tränen fließen konnten. »Komm!«
Donner krachte um sie, als spalte sich der Himmel. Die Nachbarn ringsum starrten sie alle an. Ohne darauf zu achten, schossen zwei Göttinnen oder auch nur eine Göttin erdwärts von dem strahlenden Himmelsboden, der sich schließlich verstohlen in Lehm verwandelte.
Das Feuer an der Straßenbarrikade im Labyrinth war niedergebrannt. Von den Toten und Aasfressern abgesehen war die Straße leer. Hin und wieder kam jemand vorbei — ein Stiefsohn auf seinem feurigen Streitroß oder ein einzelner Kämpfer eines Nisitodestrupps oder einer von Jubals Leuten, der etwas erledigen mußte. Niemand beachtete die schmutzige Schwachsinnige, die mit leerem Blick neben einem zertrampelten Leichnam saß, geschweige denn den Kolkraben auf einem verkohlten Wagen, der mit kaltem, aufmerksamem Blick diese gleiche Leiche betrachtete, und den toten, von einem Pfeil durchbohrten Jungen, auf dem sie lag. Schwarze Vögel waren in letzter Zeit nichts Ungewöhnliches in Freistatt.
»Seine Seele hat ihn verlassen«, flüsterte Mriga dem Raben zu. »Schon lange, und der arme Leib ist kalt. Wieso? Wir sind doch sogleich hierhergeeilt ...«
»Es ist anders hier in der Zeit als dort in der Zeitlosigkeit«, antwortete der Rabe mit heiserer Stimme. »Wir hätten vielleicht etwas tun können, während das Band zwischen Seele und Leib noch nicht zerrissen war. Aber jetzt ist es zu spät ...«
»Nein!« rief Mriga heftig.
»Ich hätte diese Stadt dem Erdboden gleichmachen sollen, als ich das letztemal hier war. Dann hätte es gar nicht dazu kommen können!«
»Siveni, sei still!« Mriga saß neben Harrans verstümmelter Leiche und streckte eine Hand nach der unteren Schädelhälfte aus. Sie tat es überlegt, denn ohne das kalte, steife Fleisch selbst zu berühren, konnte sie nicht an den Tod glauben. Das war eines der Probleme, die man als Gottheit hatte. Unsterblichen fiel es häufig schwer, den Tod ernstzunehmen. Mriga jedoch nahm ihn sehr ernst.
Sie forschte in ihrer Allwissenheit. »Wir könnten ihn zurückbringen«, sagte sie. »Es gibt Möglichkeiten ...«
»Und wohin? Zurück in das da?« In ihrer Rabengestalt flatterte Siveni hinunter zu den kalten, grauenvoll zugerichteten sterblichen Überresten und hackte verächtlich mit dem Schnabel danach. Sie bluteten nicht einmal. »Und wenn nicht hierher, wohin dann?«
»In einen anderen Körper ...?«
»Wessen?«
Mrigas Allwissenheit verweigerte ihr eine Antwort. Das machte nichts: ihr kam selbst ein Gedanke — einer, der ihr Angst machte, sich aber möglicherweise durchführen ließ. »Machen wir uns darüber im Augenblick keine Sorgen«, antwortete sie. »Wir werden uns etwas einfallen lassen.«
»Und selbst wenn — wer sagt, daß seine Seele seine Verstümmelung überlebt hat. Die Seelen Sterblicher sind sehr zerbrechlich. Manchmal zerschmettert der Tod sie vollständig. Oder für eine lange Zeit — zu lange, als daß es einen Sinn hätte, sie in einen Körper zu stecken, wenn sie sich gefaßt haben, weil sie nicht mehr wissen, wie man in einem bleibt.«
»Er war ein Gott, wenn auch nur für eine kurze Weile«, gab Mriga zu bedenken. »Das hat sicher Spuren hinterlassen. Und ich glaube nicht, daß Harran so zerbrechlich war. Komm schon, Siveni, wir müssen es versuchen!«
»Lieber brenne ich die Stadt nieder«, krächzte der Rabe und hüpfte auf Mrigas Schulter, als sie sich erhob.
»Dazu ist es ein bißchen zu spät, fürchte ich.« Mriga schaute sich um, betrachtete die noch leicht schwelende Barrikade, die versengten und rußgeschwärzten Fassaden der Häuser ringsum. »Die Katzen haben einander die Schwänze in Brand gesteckt und sich nicht darum geschert, was sonst noch in Flammen aufgeht, während sie fauchend herumlaufen.«
»Katzen ...«, murmelte Siveni nachdenklich.
»Ja, genau so sehe ich es. Wir werden uns ein paar vorknöpfen. Doch das hat noch Zeit. Erst mal das Wichtigste. Wo ist mein Hündchen?«
Tyr erwachte mit dem beunruhigenden Gefühl, das gewöhnlich bedeutete, daß sie von der schrecklichen Zeit geträumt hatte, ehe die Anwesenheit in ihr Leben kam. Doch als sie ganz wach war, wurde ihr bewußt, daß dieses Gefühl leider nicht die Nachwirkung eines Alptraums war. Minutenlang schlossen sich in dieser
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