Die Farbe Des Zaubers
Gegend Freistatts die Fenster, als dieses herzzerreißende Heulen aus dem Abfallhaufen hinter dem Wilden Einhorn hervortönte. Aber Tyrs Kehle war wund von dem Rauch und dem trostlosen Heulen am vergangenen Tag, so daß sie nun hustete und würgte und schließlich aufhören mußte.
Keuchend lag sie tief in Trauer und Schmerz versunken. Der Abfall um sie roch köstlich, aber sie hätte keinen Bissen hinuntergebracht. Aus dem Einhorn kamen Geräusche von Menschen, und aus dem oberen Stockwerk knurrte eine Katze eine wütende Herausforderung, doch Tyr brachte nicht einmal die Kraft auf davonzurennen. Sie stieß einen Laut aus, der halb Stöhnen, halb Wimmern war, hinter dem ein Gefühl steckte, das ein Mensch — könnte er in sie hineinsehen — als hoffnungsloses Gebet erkannt hätte: Oh, was immer da sein mag, das zuhört, bitte, bitte mach es ungeschehen!
Und plötzlich war jemand neben ihr, und ihre alten Reflexe erwachten. Tyr plagte sich auf die Pfoten, um davonzulaufen. Aber ihre Nase war stärker. Tyr erstarrte — dann sprang sie wie verrückt winselnd hoch, hüpfte in ihrer Erleichterung wie ein Gummiball und schleckte die dünne Gestalt ab, die sich neben sie gekniet hatte. Die Dünne schmeckte besser als gewöhnlich. Sie hatte auch noch etwas bei sich — einen schwarzen Vogel von der Art, die Tyr sonst gern jagte —, aber seltsamerweise roch dieser Vogel wie die Dünne, also ließ sie ihn in Frieden. Sie schmiegte sich in die Arme der dünnen Gestalt, wimmerte ungläubiges Willkommen, Furcht, Leid und Trauer, den Schmerz, daß die Welt nicht mehr dieselbe war ...
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Mriga, und obwohl die Worte für Tyr keine Bedeutung hatten, beruhigten sie die Hündin doch. Mriga wußte auch ohne Allwissenheit genau, wie das Tier sich fühlte. Ihr eigener, zurückgebliebener Verstand, ehe die Göttlichkeit sie überwältigte, war die gleiche Leere gewesen, voll von unerklärlichen Anwesenheiten und Einflüssen. Jetzt drückte die Hündin die Nase in sie, sowohl zutiefst erleichtert als auch neu verwundet, weil sie sich erinnerte, was mit der Welt nicht mehr stimmte. Sie winselte und ihr Magen knurrte.
»Du armes Ding«, sagte Mriga. Sie griff seitwärts in die Zeitlosigkeit nach den Knochen des Bratens, von dem sie gegessen hatte. Tyr sprang zu den Knochen hoch, noch ehe sie völlig in der Zeit waren, und stürzte sich darauf.
»Sie glaubt, sie ist in der Hölle«, sagte Mriga zu Siveni.
Der Rabe stieß ein kurzes, bitteres Krächzen hervor. »Ich wollte, sie wäre es, denn er ist ganz sicher dort. Sie könnte uns zu ihm führen ...«
Mriga blickte den Raben bewundernd an. »Deine verlorene Weisheit kehrt zurück, Schwester. Sie könnte es vielleicht wirklich. Natürlich müßten wir einen Weg finden, selbst in die Hölle zu gelangen.«
»Dann laß dir einen einfallen«, entgegnete Siveni, und es klang gleichermaßen erfreut wie verärgert.
Mriga überlegte. Ihre Allwissenheit regte sich, doch nicht so ganz in die erforderliche Richtung. »Ich weiß noch nicht wie«, murmelte sie. »Aber es gibt Fachleute in dieser Stadt, die den Weg kennen. Sie haben viele andere dorthin geschickt. Und sie holen sie wieder zurück.«
Tyr blickte auf und bellte. Sie hatte das Fleisch verschlungen und sah bereits etwas besser aus — nicht nur, weil sie nach so langem Fasten wieder etwas gefressen hatte. Speise und Trank der Götter bewirken Seltsames bei Sterblichen. Tyrs Augen waren klarer und tiefer, als Mriga sie je zuvor gesehen hatte, und der Hund roch plötzlich nicht mehr wie ein Abfallhaufen.
»Ja«, sagte Mriga. »Vielleicht läßt es sich so machen. Friß auf, Kleines. Dann begeben wir uns zum Schimmelfohlenfluß — und gehen zur Hölle.«
Wieder bellte Tyr und beeilte sich, fertig zu fressen. Der Rabe blickte Mriga schief am. »Was ist, wenn sie uns nicht helfen will?«
Die Allwissenheit meldete sich wieder in Mriga, die die Stirn runzelte, weil es kein beruhigendes Gefühl war. »Sie wird uns helfen«, versicherte sie Siveni. »Vorausgesetzt natürlich, daß wir uns auf dem Weg zu ihr die richtigen Worte einfallen lassen ...«
Selbst Nekromantinnen müssen hin und wieder schlafen, und in den vergangenen Tagen hatte Ischade weniger Schlaf gefunden, als sie gewohnt war. Nun, an diesem strahlenden, eisigen Winternachmittag war sie offenbar der Meinung, daß Freistatt mit so vielen Schwierigkeiten beschäftigt war, daß sie sich ein wenig ausruhen konnte. Die Fensterläden des Hauses am
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