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Die Farben der Finsternis (German Edition)

Die Farben der Finsternis (German Edition)

Titel: Die Farben der Finsternis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Pinborough
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Nachbarhaus war bloß knapp einen Meter breit, sodass sie die Straße nur sehr begrenzt einsehen konnte. Wie gründlich wurde sie überwacht? Sie vermutete, dass Fletcher den Wagen entsprechend platziert hatte, damit sie das Haus nicht verließ. Gleichzeitig würde er ihre Festnetz- und Handyverbindungabhören. Schließlich war ihre Schwester gerade erst gestorben, und auch wenn er ihrem Bericht über das, was sie auf dem U-Bahnsteig gesehen beziehungsweise nicht gesehen hatte, misstraute, hatte sie letztendlich den fetten Mann gejagt und gestellt, während die Beamten der Sicherheitspolizei herumgewuselt waren wie Figuren aus einem Stummfilm in Schwarz-Weiß.
    Schwarz und weiß . Das hatte etwas zu bedeuten. Hatte sie nicht irgendwann an diesem Tag nur noch Schwarz und Weiß gesehen? Es hatte sich gut angefühlt, das wusste sie. In dieser kurzen Abwesenheit von Farbe hatte etwas Tröstliches gelegen. Ungefähr einen Meter zu ihrer Linken führte eine Regenrinne am Haus nach unten. Die Farbe war zwar abgeblättert und sie sah ziemlich alt aus, aber die Winkel, mit denen sie an den Ziegeln befestigt war, wirkten sauber verschraubt. Das Metall klebte geradezu an der Mauer. Abigail hoffte, dass der Eindruck nicht täuschte.
    Das Fenster ließ sich nur halb hochschieben, aber das reichte. Sie beugte sich rückwärts und schob ihren schlanken Oberkörper ins Freie. Dann zog sie sich an der Scheibe hoch, während sie sich mit einer Hand und ihren starken Bauchmuskeln ausbalancierte. Als sie festen Halt hatte, zog sie ein Bein nach. Dann schob sie sich an der Scheibe entlang, reckte sich über die Außenmauer und griff nach der Regenrinne. Sie fühlte sich schmierig an. Seufzend holte Abigail Luft, ließ los und umklammerte die Regenrinne. Sie sah nicht nach unten – nicht weil sie Höhenangst hatte, sondern weil es überflüssig war. Sie wusste, was dort unten war: rissiger, harter Beton. Es lohnte sich nicht, über eine Landung nachzudenken. Wenn sie fiel, würde sie sich die Knochen brechen – mindestens.
    Mit der Präzision einer Katze drückte sie den freien Fuß in den Spalt zwischen den Ziegeln, zog die Zehen ein, umHalt in der Fuge zu finden, und holte dann das zweite Bein nach. Sie fand mit den Füßen Halt an der Regenrinne und nutzte den Schwung, um den Oberkörper nachzuziehen.
    Rasch rutschte sie nach unten und lehnte sich keuchend an die Mauer. Sie hatte sich den Pullover aufgerissen und war mit dem Bauch über die Ziegel geschrammt. Ihre Rippen taten weh. Es war lange her, seit sie so etwas gemacht hatte, und man konnte noch so viel joggen und Yoga machen – für etwas so außer der Reihe Liegendes war man nie richtig vorbereitet. Aber während sie an die Rückseite des Hauses lief, erholten sich ihre Muskeln bereits. Sie ließ den Blick über die Straße schweifen. Es war still und sie konnte nirgends ein verdächtiges Fahrzeug entdecken. Mit gesenktem Kopf hielt sie sich im Schatten der Hausmauer und ging in die andere Richtung, fort von ihrer Wohnung. Am Ende der Straße wagte sie einen Blick zurück. Soweit sie es beurteilen konnte, wurde sie nicht verfolgt. Die Nacht war ruhig.
    Sobald sie ihre unmittelbare Nachbarschaft hinter sich gelassen hatte, verfiel sie in ein ruhiges Lauftempo. Nicht so schnell, dass es den Verdacht vorbeifahrender Polizisten erregt hätte, aber schon so zügig, dass ein etwaiger Verfolger sich hätte zeigen müssen. Sie hörte jedoch nur ihre eigenen Schritte, die einsam in der Dunkelheit widerhallten, und fand bald ihr Tempo, in dem sie ebenso zu ihrem Vergnügen lief, wie um ihrem Ziel näher zu kommen.
    Nach drei Meilen hielt sie an einer Telefonzelle an. Ihr Atem ging ruhig und ihre Muskeln waren locker. Sie fühlte sich gut, als sie die Münzen einwarf und die Nummer auf ihrem Arm eintippte. Nach zweimaligem Klingeln hörte sie eine glatte exotische Stimme.
    »Asher Red.«
    »Abigail Porter«, antwortete sie.
    »Gut. Ich habe Ihren Anruf erwartet. Hören Sie gut zu …«
    Als Abigail hörte, wie vergnügt seine Stimme klang, wurde ihr ganz warm ums Herz.

    Der Junge auf dem Bett hatte endlich aufgehört zu weinen, nachdem er ehrlich gesagt fast direkt damit angefangen hatte. Mr Craven kümmerte das wenig. Wenn er in der richtigen Stimmung war, machte es so manchmal sogar mehr Spaß. Das Bett war riesig und der Junge sah darin sehr klein aus. Mr Craven wusste nicht genau, wie alt er war, aber seiner Erfahrung nach älter als sechs, jünger als neun, irgendwas dazwischen

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