Die Farben der Finsternis (German Edition)
standen hauptsächlich Namen und Berufsbezeichnungen. Keiner davon stach ihm besonders ins Auge. Wer von diesen Leuten hatte seine Rolle dabei gespielt? Er war müde und hatte zu viel nachgedacht, um sich noch konzentrieren zu können. Das Tütchen lag noch auf dem Tisch und er hackte sich noch eine Line aus dem weißen Pulver, die er rasch die Nase hochzog. Über eine Sache wollte er auf keinen Fall nachdenken: wie sehr er das Kribbeln und den steten Rausch genoss – sechs Monate waren eine zu lange Zeit gewesen. Er lehnte sich im Sessel zurück und erlaubte dem Pulver, in seine Kehle zu sickern und das vertraute Taubheitsgefühl zu verbreiten. Sein Kiefer schloss sich fest über seiner Zunge, mit den Zähnen packte er knirschend ihre Ränder.
Chaos im Dunkel . Die Namen auf dem Papier waren möglicherweise nur Wörter, aber dieser Satz brachte eine ganze Horde Geister mit sich. Nur eine kleine Lampe beleuchtete den Raum und Cass glaubte schon in den düsteren Ecken an der Decke und am Boden die Gesichter der toten Studenten zu sehen, blass und blutleer sahen sie ihn aus trüben Augen böse an. Was ist mit uns? , fragten sie neidisch. Und um uns kümmerst du dich überhaupt nicht?
»Das mache ich tagsüber«, murmelte er leise, als könnteer sie dadurch vertreiben. Sie gingen nie weg. Wenn er nachts schlief, waren seine Träume überschattet von großen anklagenden Augen in einem braunen Gesicht und einem einzigen Schuss. Die Toten ließen einen nie in Ruhe. Nicht, wenn man ihnen etwas schuldete.
Er erschauerte vor frischer Zuversicht, als er sich wieder den Dokumenten zuwandte. Die Toten sollten verschwinden und sich ins Knie ficken. In diesem Augenblick wollte er sich auf die Lebenden konzentrieren, auf den Fremden von seinem Blut, den er suchte, während er noch immer den Verlust eines Neffen betrauerte, in dessen Adern fremdes Blut geflossen war. Ein Rad im anderen.
Sie sitzt da und hat die Knie ans Kinn gezogen. Die Augen sind geschlossen, aber sie schläft nicht. Im Schein der einsamen nackten Glühbirne, die von der Decke hängt, glänzt ihr tizianrotes Haar. Außer dem Holzstuhl und der modernen Stereoanlage, die auf dem Boden an der Wand steht, ist der Raum leer.
In Paris ist es warm, obwohl es schon spät und herbstlich ist. Das Fenster steht offen. Sie ist müde. Sie ist schon seit ihrer Ankunft müde, und das war eine echte Überraschung. Sie hätte sich für stärker gehalten. Trotzdem muss sie noch etwas erledigen und dafür reicht ihre Energie aus. Von der Straße dringen Geräusche nach oben. Die Stimmen gefallen ihr am besten. Sie ist fasziniert von der Geschwindigkeit der Wörter und der fließenden Glätte dieser Sprache. London kann warten. Am Ende muss sie dorthin gehen, aber im Augenblick genießt sie es, in der »Stadt der Liebe« zu sein. Sie kann ihre Aufgabe auch von hier aus erledigen und schließlich ist sie nicht allein gekommen. Ohne die Augen zu öffnen, lässt sie einen Arm sinken und berührt die kleine Fernbedienung neben sich. Aus der Anlage dröhnt »Rhapsody in Blue« in Perfektion. Sie lächelt. Sie mag dieses Stück. Cass war eindeutig high. Doch auch wenn er seinen Höhenflug sehr genoss, kam er mit den vorliegenden Papieren trotzdem nicht weiter. Er hatte sich den Namen der Hebamme sowie den des Gynäkologen und des Kinderarztes notiert, die in jener Nacht auf der Entbindungsstation Dienst gehabt hatten. Das war zumindest ein Anfang. Außerdem musste er herausfinden, wie so eine Krankenhausgeburt überhaupt ablief. In ihrer verhängnisvollen Ehe hatten er und Kate es nicht zu Kindern gebracht. Also, wie schwer konnte es vor zehn Jahren gewesen sein, ein Baby zu vertauschen? Eigentlich brauchte er dringend das Material der Überwachungskameras. Es war allerdings wenig wahrscheinlich, dass noch irgendwo Videos aus dieser grauen Vorzeit gelagert wurden.
Es dauerte einen Moment, bis er merkte, dass die Musik von draußen kam. Stirnrunzelnd zündete er sich eine Zigarette an. War das etwa eine Geige? Er wusste schon, wen er auf der Straße sehen würde, ehe er das Fenster öffnete. Beim Hinauslehnen wurde er nicht enttäuscht. Der Landstreicher stand unter der Straßenlaterne, als wollte er ihm ein Ständchen bringen, und führte den Bogen geschmeidig über die Saiten. Diesmal spielte er etwas ganz anderes als beim letzten Mal; Cass kannte die Melodie. »Rhapsody in Blue.«
Der alte Mann hob den Blick und lächelte. Seine Zahnlücke war so dunkel wie die Nacht. Er trug
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