Die Farben der Finsternis (German Edition)
sie riss.« Er ahmte die Bewegung nach.
»Du bist für diesen Job geboren, Eagleton, weißt du das eigentlich?«
»Es hat was, seine Tage mit den Toten zu verbringen.« Eagleton zog die Handschuhe aus. »Keiner unterbricht mich oder beschwert sich, wenn ich singe. Und ich bin umzingelt von Nackten.«
»Wenn du jemals befördert werden willst, musst du dir ein paar neue Witze ausdenken. Dieser Kommentar ist so alt, dass er selbst auf der Bahre liegen sollte.«
»Ha, ha! Echt witzig, Jones.«
»Zurück zum Wesentlichen?«
»Es geht um die Aussage des Freundes. Er behauptet, er wäre wach geworden und hätte mit ihr reden wollen, aber sie hätte nur diesen einen Satz gesagt. Sie hat ihn drei Mal gesagt, das letzte Mal direkt bevor sie das hier getan hat.«
»Und um welche Perle der Weisheit handelt es sich?«
»›Chaos im Dunkel‹, hat sie gesagt, sonst nichts.«
»Was?«
»›Chaos im Dunkel‹. Er hat sie gut verstanden und so was denkt man sich nicht aus.«
»Sie war stoned.« Cass zeigte auf den Joint. »Wahrscheinlich hat sie Unsinn geredet.«
»Klar, das hätte ich auch gedacht, wenn ich den Satz nicht schon mal gehört hätte.«
»Was sagst du da?«
»Der Spruch ist mir vor einigen Wochen aufgefallen. Bei einem anderen Selbstmord, damals war es eine Studentin vom Chelsea Art College. Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten – zugegebenermaßen auf eine üblichere Art –, aber sie hat den gleichen Satz an die Wand geschrieben,mit ihrem eigenen Blut, wahrscheinlich kurz bevor sie starb. ›Chaos im Dunkel‹.«
Cass blickte auf das tote Mädchen hinunter. Das Blut würde sich bald in ihren unteren Gliedmaßen stauen und ihre Haut würde sich rasch blaulila verfärben. Es stand zu hoffen, dass Eagleton sie wegschaffte, bevor sich ihre Leiche zu sehr verkrümmte. Über kurz oder lang würden ihre Eltern den Leichnam mit nach Hause nehmen wollen.
»Und du bist sicher, dass es der gleiche Satz war? Sie hat genau das gesagt, was das andere Mädchen geschrieben hat? Spielt dir dein Gedächtnis auch bestimmt keinen Streich?«
»Nein«, antwortete Eagleton entschieden. »Zu der anderen wurde ich am Morgen nach den Bombenanschlägen gerufen – ich musste vom St. Mary’s direkt nach Chelsea fahren. Von diesen außergewöhnlichen vierundzwanzig Stunden habe ich alles behalten. Abgesehen davon sind Fotos in der Akte.«
Cass schwieg. Chaos im Dunkel . Was sollte das heißen? Er unterdrückte ein Gähnen. Vielleicht hatte es gar nichts zu bedeuten. Er warf noch einen Blick auf das tote Mädchen und spürte das vertraute stechende Gefühl, das zu diesem Beruf gehörte: den Wunsch, das Warum zu verstehen. Für letzte Worte mutete der Satz sonderbar an, eine Tatsachenerklärung, keine Begründung ihrer Tat. Es war auch kein Abschiedsbrief. Oder alles auf einmal. In seinem Gehirn tickte und drehte sich alles, er wandte die Worte hin und her.
»Hast du gerade einen guten Fall?«, fragte Eagleton und unterbrach Cass’ verlorene Gedanken.
»Du kennst die Antwort – bis der andere Scheiß aufgearbeitet und vergessen ist, kriege ich den letzten Dreck. Ich verbringe zu viel Zeit damit, den verschiedensten Anwältendie immer gleiche Geschichte zu erzählen, als dass sie mir einen anständigen Mord anvertrauen würden. Du weißt, wie das läuft.«
»Oh, wie ich Anwälte liebe.«
Die beiden Männer schwiegen kurz. Die gemeinsame Bürde, ein schwarzes Schaf zu sein, verband sie miteinander. Eagletons Beweismaterial hatte mehr als ausgereicht, um Anklage gegen den Gerichtsmediziner Mark Farmer – seinen früheren Chef – zu erheben, und Cass’ Informationen hatten zur Festnahme vieler Polizisten in Paddington Green geführt. Einige ließ man heimlich wieder laufen, damit die Presse nicht mitbekam, wie tief die Korruption im System verankert war. Als Gegenleistung lieferten sie die Anführer ans Messer. Doch all jene, die etwas mit der Verschwörung zu tun und nicht nur Geld von Kriminellen genommen und dafür weggesehen hatten, sondern aktiv an den Verbrechen beteiligt gewesen waren, hatten Freunde, von denen nicht wenige glaubten, eigentlich wäre doch niemand zu Schaden gekommen. Schließlich hatte man keine Mörder laufen lassen.
Cass warf dem Jüngeren erneut einen Blick zu. Eagleton sah auch nicht mehr so jugendlich aus wie früher, sondern wirkte inzwischen deutlich reifer.
»Du hast recht«, sagte Cass. »Eine Überprüfung ist es wert, solange mir deswegen keiner dumm kommt. Weißt du noch, wie die
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