Die Farben der Freundschaft
durch das Tor gekommen? Du musst jetzt wirklich gehen!«
»Immer mit der Ruhe.« Er grinste. »Heiß und widerspenstig steht dir unglaublich gut!« Er umfasste mit der Hand meinen Nacken. »Eines Tages wirst du mich küssen …« Ich presste die Lippen hart aufeinander. »Jawohl, Ruby, eines Tages wirst du mich anbetteln um einen Kuss, aber bis dahin werde ich ihn mir ohne deine Einwilligung nehmen müssen.« Er drückte seinen Körper fest gegen meinen und zwängte seine Zunge in meinen unwilligen Mund, während sich der Türknauf immer fester in meine Wirbelsäule drehte. Von drinnen hörte ich Vater rufen: »Ruby, wo bist du?«
Da wehrte ich mich gegen Desmonds Zunge und biss fest zu. Er stieß einen Schrei aus, taumelte zurück und hielt sich die Hand vor den Mund. Ungläubig blickte er auf das frische Blut in seiner Handfläche.
»Hier bin ich, Vater! Draußen«, rief ich. »Ist schon okay, alles in Ordnung!« Ich suchte Halt an der Haustür.
Zielstrebig ging Desmond wieder einen Schritt auf mich zu. An die Stelle seines grinsenden Selbstbewusstseins war Hohn getreten.
»So …« Er fuhr mir mit seinem blutigen Finger über den Mund. »So magst du’s also …« Er malte einen Ring um meine Lippen. Dann strich er mit der Hand über meine Bluse, drückte grob meine linke Brust und hinterließ eine Blutspur auf dem Stoff.
»Hexe!« Verächtlich spuckte er eine Ladung Blut und Speichel vor meine Füße, dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging zum Tor, das weit offen stand. Julian war es also irgendwie gelungen, bei dem Überfall nicht seine Schlüssel zu verlieren, weil aber danach das Tor offen geblieben war, hatte Desmond problemlos auf unser Grundstück gelangen können.
Vater stand in der Diele, als ich schnell wieder ins Haus schlüpfte. In seinem Gesichtsausdruck mischten sich Liebe, Erleichterung und Verwirrung. »Ruby!« Seine Stimme brach.
Ich stürzte in seine ausgestreckten Arme, und er drückte mich fest an sich.
6
WIE konnte es sein, dass in einer Zeit, in der Menschen misshandelt wurden, Kinder Hunger litten, Familien getrennt wurden und einander monatelang nicht sahen, in der die Schulkinder in Soweto nicht genügend Bleistifte in ihren spartanisch ausgestatteten Klassenzimmern hatten – wie konnte es sein, dass wir in dieser Zeit Hockey spielten, Trophäen im Springreiten gewannen, Schwimmwettkämpfe austrugen und bei Korbballspielen in der Halbzeitpause genüsslich Limonade schlürften und selbst gebackene Kekse aßen?
Ich konnte doch unmöglich die Einzige in der Schul-Cafeteria sein, die den gesenkten Kopf des jungen schwarzen Mädchens bemerkte, das im Schulalter war und uns Teller mit heißen Würstchen und Kartoffelbrei servierte. Sah wirklich kein anderer Schüler den sehnsüchtigen Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie beim Abräumen unserer Teller einen verstohlenen Blick auf die Hochglanzumschläge unserer Schulbücher warf? Falls es einen solchen Schüler gab, so ließ er oder sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Alle schienen vollauf mit den Plänen für den bevorstehenden Schulball beschäftigt zu sein und schaufelten sich dabei das Essen in die Münder, ohne sich auch nur mit einem flüchtiges Nicken bei dem jungen Mädchen zu bedanken.
»Komm schon, Ruby«, drängte mich mein Freund Clive. »Du musst bei der Organisation des Disco-Balls unbedingt den zweiten Vorsitz übernehmen.«
»Ja, genau, du und Desmond, ihr solltet das zusammen machen! Dann hätten wir einen Disco-Nahkampf-Ball!«, rief jemand am anderen Ende des langen Tisches.
Desmond war nach unserem blutigen Zusammentreffen gleich am nächsten Tag wieder zur Schule gekommen und hatte allen deutlich zu verstehen gegeben, dass ich das größte Aas der Abiturklasse sei und jeder, der mit mir spräche, nicht mehr zum Kreis seiner Freunde zählte. Zu meiner Überraschung teilte sich die Klasse in beinahe gleich große Hälften. Viele der Jungen, die schon lange eifersüchtig waren, weil Desmond die ganze Aufmerksamkeit der Mädchen auf sich zog, schlugen sich spontan auf meine Seite, außerdem eine Handvoll Mädchen, die Desmond irgendwann einmal vor den Kopf gestoßen oder aber nie beachtet hatte. Die größte Verletzung erfuhr ich jedoch durch meine beste Freundin Monica, die, ihre lange blonde Mähne zurückwerfend, in Desmonds Lager überlief. Ich hätte eigentlich ahnen müssen, dass sie in ihn verknallt war, denn wann immer ich sein abscheuliches Verhalten kritisiert hatte, war ihr etwas zu seiner
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