Die Farben der Freundschaft
spannte sich ein blassroter, golddurchwirkter Himmel, vor dem sich ein einzelner weißer Vogel mit grauen Flügelspitzen in die Luft schwang. Seine Flugbahn kennzeichnete eine lavendelblaue Spur mit tiefen magentafarbenen Schatten. Der kleine Vogel war weit entfernt vom offenen azurblauen Meer, und doch war unverkennbar, was es für ein Vogel war.
»Eine Möwe«, sagte ich.
»Ja«, antwortete Julian leise.
»Und der Junge …« Tränen stiegen mir in die Augen. »Der Junge bist du.«
»Es ist jeder Junge, Ruby. Jedes Kind, das schon einmal davon geträumt hat, über unsere dunkle Welt hinweg in den offenen Himmel zu fliegen.«
»Das ist das schönste Bild, das du je gemalt hast!« Ich spürte, wie mir die Tränen langsam über die Wangen liefen.
»Ah, jetzt bist du an der Reihe mit Weinen.« Julian kam zu mir und wischte mit einem Zipfel des weißen Tuches, das er immer noch in der Hand hatte, meine Tränen ab. Dabei lachte er leise in sich hinein. »Muss ansteckend sein.«
»Mutter wird sich so darüber freuen …«, sagte ich schniefend.
»Es ist nicht für die Ausstellung. Es ist für jemanden bestimmt, der mir viel wichtiger ist.«
»Aber …«, fing ich an, doch Julian legte einen Finger auf meine Lippen.
»Es ist für dich, Ruby.« Er zog mein Gesicht zu sich heran und hielt es zwischen seinen großen rauen Händen. Für einen Moment traf mich der tiefe Blick seiner dunklen Augen. Dann küsste er mich sanft auf die Stirn.
»Das habe ich nicht verdient«, sagte ich.
»O doch, Ruby. Mehr als du ahnst.« Julian ging zur Staffelei, hob das Bild herunter und hielt es mir hin.
»Es hat den Titel »Ishiboshwa erhebt sich«.
»Was bedeutet Ishiboshwa?«, fragte ich und nahm das Bild entgegen.
»Es heißt ›Der Gefangene‹.«
»Der Gefangene erhebt sich«, flüsterte ich. »Ich werde es hüten wie einen Schatz. Für immer.«
»Ja, für immer.« Obwohl er lächelte, lag etwas Schmerzliches auf seinem Gesicht, als Julian mir die Ateliertür öffnete.
Ich trat hinaus ins Nachmittagslicht und drehte mich um, weil ich ihm danken wollte, aber er hatte mir schon wieder den Rücken zugekehrt, den Blick auf die jetzt leere Staffelei gerichtet.
»Danke, Julian.«
»Viel Spaß auf deinem Schulball«, sagte er leise, ohne sich umzudrehen.
17
SOSEHR ich mich auch bemühte, es war mir einfach nicht möglich, mit dem Hin- und Hergerenne in meinem Zimmer aufzuhören. Ich hatte die Tage gezählt, dann die Stunden und zuletzt die Minuten, bis es endlich Samstagabend, sieben Uhr wäre und Johann mich zum Schulball abholen würde. Jetzt blieben noch viereinhalb Minuten. Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass Johann mit mir hingehen wollte. Wir hatten heute schon miteinander telefoniert, und obwohl er versprochen hatte, nicht zu spät zu kommen, fiel es mir unwahrscheinlich schwer, ruhig zu bleiben. Wirre Zweifel quälten mich. Das war doch alles nur ein großer Streich, den ich mir selbst gespielt hatte. Ich würde allein zum Schulball gehen. Es gab gar keine Verabredung. Keinen Johann. So schwankte ich ständig zwischen Wirklichkeit und Einbildung. Immer dann, wenn ich glaubte, es sei doch wahr und Johann würde gleich klingeln, rannte ich zu meinem Toilettentisch, stellte mich vor den großen Spiegel und kontrollierte zum hundertsten Mal Frisur und Make-up. Ich staunte, wie verändert ich heute Abend aussah. Dunkler Lidstrich zu meinen grünen Augen, Mascara auf den Wimpern, rosa schimmernde Lippen und dunkles glänzendes Haar, das ich an den Spitzen mit einem Lockenstab eingedreht hatte. Nervös lachte ich dem Gesicht zu, das mir aus dem Spiegel entgegenblickte. Cleopatra geht zur Disco, schoss es mir durch den Kopf.
Es kam selten vor, dass ich mich stark schminkte. Aber heute Abend war das anders. Heute Abend sollte Johann stolz darauf sein, mit mir gesehen zu werden. Ich wollte, dass Monica, wenn sie meinen neuen, wie angegossen sitzenden lindgrünen Jumpsuit und meine neuen weißen Schuhe mit den Plateausohlen sah, daran denken würde, wie viel Spaß wir auf unseren gemeinsamen Einkaufstouren immer gehabt hatten. Einmal wenigstens wollte ich unbekümmert sein. Heute Abend, so beschloss ich, während ich mit dem Rougepinsel erneut über meine Wangen fuhr, heute Abend würde mich nichts davon abbringen, ein normales siebzehnjähriges Mädchen zu sein, das mit einem attraktiven Jungen tanzte. Gar nichts. Weder ein unausstehlicher Desmond noch irgendwelche schuldbewussten Gedanken an Julian, der sich den
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