Die Farben der Sehnsucht
ausstellte, wenn sie schlief.
Sie schürzte die Lippen. „Ich habe Margaret seit Tagen nicht mehr gesehen.“
„War sie am Sonntag nicht hier?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort ganz genau kannte. Margaret und Matt waren am frühen Nachmittag bei uns vorbeigekommen. Es war das erste Mal, dass sie Julia allein gelassen hatten, seitdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Margaret hatte sich ununterbrochen Sorgen gemacht, und die beiden waren nach kurzer Zeit wieder nach Hause gefahren.
Mom griff nach der Fernbedienung und stellte den Fernseher leiser. Sie sah sich gerade eine dieser Gerichtssendungen an, in denen ganz normale Menschen bei einem Richter vorsprachen. „Wann wirst du mir endlich erzählen, was eigentlich los ist?“, fragte sie unruhig.
Ich seufzte. In dem Augenblick wollte ich ihr alles erzählen. Doch ich konnte es nicht. Wenn sie etwas über den Autodiebstahl erfahren sollte, dann durch meine Schwester und nicht durch mich.
„Was gab es zum Mittagessen?“, fragte ich stattdessen.
Moms Blick wanderte zum Fernseher. „Ich glaube, ich war heute Mittag nicht beim Essen.“
Einer der Vorteile am betreuten Wohnen war, dass pro Tag drei ausgewogene Mahlzeiten angeboten wurden. Margaret und ich hatten uns noch einige andere Einrichtungen angesehen und sehr sorgfältig die Vor- und Nachteile abgewägt, bevor wir uns für diese hier entschieden hatten. Für uns waren die Mahlzeiten und die zahlreichen Veranstaltungen schlagende Argumente gewesen.
Mom besaß ihr eigenes kleines Apartment samt einer winzigen Küche mit Mikrowelle und Kühlschrank. Das Beste war, dass sie ihre persönlichen Dinge um sich herum hatte. Margaret und ich hatten uns im Haus umgeschaut, bevor es verkauft worden war, und die Dinge gerettet, von denen wir wussten, dass sie sie liebte. Mom freute sich, dass wir so viele ihrer Möbel in ihre neue Wohnung bringen konnten. Es war tröstlich, persönliche Erinnerungsstücke um sich zu haben, wenn sonst so viele verstörende Veränderungen vor sich gingen.
Ich war beunruhigt, als ich hörte, dass sie das Mittagessen hatte ausfallen lassen. „Mom, du bist Diabetikerin. Du musst essen!“
„Ja, mein Schatz, ich weiß. Ich habe etwas Thunfisch und Cracker gegessen.“ Sie warf mir einen matten Blick zu, der um Verständnis bat. „Weißt du, ich habe keinen großen Appetit.“
Mich beunruhigte nicht nur die Tatsache, dass sie eine Mahlzeit hatte ausfallen lassen. Sie brauchte auch den sozialen Kontakt. Mir missfiel die Vorstellung, dass Mom tagelang allein in ihrem Zimmer saß. Als sie in die Einrichtung kam, waren Margaret und ich begeistert darüber gewesen, wie schnell sie sich mit ihren Tischnachbarn angefreundet hatte. Doch Helen Hamilton war im vergangenen Monat nach Indiana gezogen, um näher bei ihren Kindern zu sein. Und Joyce Corwin war an einem Schlaganfall gestorben. Beide Verluste hatten meine Mutter schwer getroffen. Seither lebte sie viel zurückgezogener.
„Margaret geht es gut, Mom“, sagte ich, um sie zu beruhigen. „Allen geht es gut.“ Ich hätte es nicht gesagt, wenn ich nicht geglaubt hätte, dass es tatsächlich so war. Julia hatte uns zu Tode erschreckt, doch die Psychologen waren einfach wundervoll gewesen. Sie hatten meiner Nichte geholfen, mit dem Durcheinander der unterschiedlichen Emotionen fertig zu werden, das die Opfer eines Verbrechens manchmal zu überwältigen drohte. Inzwischen traf Julia sich regelmäßig mit einer Gruppe anderer Menschen, die etwas ähnlich Traumatisches durchgemacht hatten. Sie hatten ihr dabei geholfen, mit dem Zorn und – was vielleicht noch schwerer wog – mit dem Gefühl der Verwundbarkeit umzugehen.
Ich persönlich glaubte, dass die Sitzungen auch Margaret helfen würden. Doch ich mochte meinen Kopf – und ich wusste, dass meine Schwester ihn mir abbeißen würde, wenn ich ihr ebenfalls den Besuch einer Selbsthilfegruppe vorgeschlagen hätte.
Mom griff nach meiner Hand. „Erzähle mir von deinem Wollgeschäft. Du hast gesagt, dass das Geschäft rückläufig ist?“
„Nicht rückläufig. Tatsächlich läuft der Laden besser als je zuvor. Nur heute Nachmittag ist nicht so viel los – das ist alles.“
„Oh.“
„Möchtest du, dass ich dir etwas über meine Kurse erzähle?“,fragte ich. Mom hatte es immer genossen, den Geschichten aus meinen unterschiedlichen Gruppen zu lauschen. Ich bot Kurse für Anfänger an. Außerdem gab ich einen Kurs, in dem die Teilnehmer lernten, mit
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