Die Farben der Sehnsucht
sagte mir, dass sie sich an keinen von beiden erinnerte.
„Kommst du morgen wieder?“
Ich nickte. Diese Zeit würde ich mir nehmen. Und wenn ich es nicht schaffte, würde ich Margaret bitten, sie zu besuchen. Bevor ich ging, umarmte ich sie und überzeugte mich davon, dass es ihr gut ging und sie sich wohlfühlte. Ich reichte ihr die Fernbedienung, und Mom stellte den Apparat lauter. Sie sah sich eine weitere Gerichtsshow an – diesmal mit einer Frau auf dem Richterstuhl.
Als ich auf den Flur trat, kam Rosalie Mullin, die Stationsschwester, an mir vorbei. Ich hielt sie an. „Wie waren Moms Blutzuckerwerte?“, fragte ich und dachte daran, dass sie eine Mahlzeit hatte ausfallen lassen. Ein Cracker mit etwas Thunfisch konnte wohl kaum als vollständige Mahlzeit bezeichnet werden.
„Ihre Werte waren gut.“ Sie hielt inne und sagte dann: „Ihr Diabetes ist unter Kontrolle.“ Dabei sah sie mir länger als nötig in die Augen.
Rosalies Zögern machte deutlich, dass etwas anderes ihr Sorgen bereitete. „Es gibt noch ein anderes Problem, habe ich recht?“
Sie nickte. „Wir sollten uns in meinem Büro unterhalten. In fünf Minuten werde ich da sein.“
Ich nahm den Fahrstuhl ins Erdgeschoss, wo ich vor Rosalies Büro wartete. Sie schien viel länger als nur fünf Minuten zu brauchen, doch das lag möglicherweise auch an meiner Nervosität. Jede Minute fühlte sich wie mindestens zehn an.
Ohne ein Wort zu sagen, führte Rosalie mich in ihr Büro. Sie nahm hinter dem Schreibtisch Platz und deutete auf den Stuhl, der auf der anderen Seite stand. Mit einem Kloß im Hals setzte ich mich steif auf die äußerste Ecke der Sitzfläche.
Ich spürte, wie langsam die Kopfschmerzen einsetzten. Wahrscheinlich als Folge der Gehirntumore neige ich dazu, heftige Migränekopfschmerzen zu bekommen. Sie wirken lähmend auf mich und können manchmal einige Tage anhalten. Seit Monaten hatte ich keine Migräne mehr gehabt, und so entschloss ich mich, die Schmerzen für ganz gewöhnliche Spannungskopfschmerzen zu halten. Die Übelkeit und das Schwindelgefühl versuchte ich so gut es ging zu ignorieren.
„Ich wollte Sie und Ihre Schwester sowieso anrufen“, begann Rosalie. Sie nahm eine Akte von dem Stapel auf ihrem Schreibtisch und schlug sie auf. „Und ich habe die Mitarbeiter gebeten, Ihre Mutter zu beobachten.“
„Warum?“
„Sie hat in der letzten Zeit viele Mahlzeiten versäumt und sich sehr zurückgezogen. Außerdem zeigt sie Anzeichen von Paranoia. Sie hat schlecht auf das Aricept reagiert, also hat der Arzt entschieden, das Medikament abzusetzen. Er hat mich gewarnt, dass sie schnell den Boden unter den Füßen, also ihre emotionale und physische Sicherheit, verlieren würde – und genau so ist es eingetreten. Unglücklicherweise ist eines der Symptome dieses Verfalls Appetitlosigkeit.“
Mein erster Impuls war, Mom zu verteidigen und Entschuldigungen für sie und ihr Verhalten zu finden. „Ich bin mir sicher, dass das mit dem plötzlichen Verlust von Helen und Joyce zu tun hat. An ihrer Stelle hätte ich wahrscheinlich auch keinen Appetit.“
Rosalie stimmte mir zu. „Bis zu einem gewissen Grad ist das richtig. Aber ich habe noch andere Symptome bemerkt.“
„Was meinen Sie damit?“
„Ich fürchte, Ihre Mutter zeigt die ersten Symptome einer Alzheimer-Erkrankung.“
Genau das hatte ich befürchtet. Auch wenn ich nicht den Mut gehabt hatte, es auszusprechen – nicht einmal vor mir selbst.
„Was die Mahlzeiten betrifft – könnten Sie meiner Mutter das Essen nicht aufs Zimmer bringen?“, fragte ich.
„Das können wir selbstverständlich machen“, versicherte Rosalie. „Es fällt allerdings eine zusätzliche Gebühr an, abhängig von der Anzahl der gelieferten Mahlzeiten. Aber worauf ich eigentlich hinauswill, hat nichts mit den Essgewohnheiten oder dem Diabetes Ihrer Mutter zu tun.“ Ihre Augen waren voller Mitgefühl. „Ich denke, der Zeitpunkt rückt immer näher, an dem sie mehr brauchen wird, als wir ihr hier bieten können.“
Mein Mund fühlte sich trocken an. Das Licht der Schreibtischlampe fing an, in meinen Augen wehzutun. „Sie schlagen doch nicht etwa ein Pflegeheim vor, oder?“ Der Gedanke, meine Mutter in ein solches Heim zu stecken, war mehr, als ich ertragen konnte.
„Nein, kein Pflegeheim“, erwiderte Rosalie. „Eine Betreuungseinrichtung für Demenzkranke.“
„Für Demenzkranke?“, wiederholte ich. Ich hatte noch nie von so einer Einrichtung gehört.
„Das wäre
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