Die Farben der Sehnsucht
nicht mehr die Mühe gemacht, seine kleinen Abenteuer zu verbergen. Ich hatte so lange die Augen vor der Wahrheit verschlossen, dass ich buchstäblich nicht mehr sah, was sich vor meiner Nase abspielte.“
Colette hörte den Schmerz in Jeanines Stimme.
„Eines Morgens wachte ich auf“, fuhr Jeanine fort, „und ich wusste, wenn ich jetzt nicht aus dieser Ehe ausbrach, würde ich meinen Verstand verlieren. Steve ging zur Arbeit, und ich rief meine Eltern an und fragte, ob ich bei ihnen wohnen könnte, bis ich ein Apartment in Yakima gefunden hätte. Sie waren einverstanden.“
„Und an dem Tag bist du gegangen?“
„Genau an dem Tag“, erwiderte Jeanine. „Ich war mir absolut sicher, dass ich meine Meinung nicht mehr ändern würde. Es stand nicht nur mein Stolz oder die Zukunft meiner Kinder auf dem Spiel. Ich weiß, dass es vielleicht melodramatisch klingt … aber mein Seelenfrieden war in Gefahr.“
„Hat Steve dich gebeten, die Sache noch einmal zu überdenken?“
Jeanine lachte leise. „Er war fest davon überzeugt, dass ich zurückkommen würde, und – weiß Gott – er hat wirklich versucht, mich umzustimmen. Und er kann echt überzeugend sein, wenn er will. Was er nicht verstehen konnte, war, dass er die Liebe, die ich früher für ihn empfand, unwiederbringlich zerstört hatte. Aber ich muss gestehen, dass ich schon öfter angedroht hatte, ihn zu verlassen.“
„Hast du es jemals getan?“
„Nein, ich Dummkopf“,sagte sie. „Es dauerte sechs Monate, bis er kapiert hat, dass ich nicht nach Seattle zurückkehren würde.“
„Du hast dir nie etwas anmerken lassen – all die Male, die wir uns gesehen haben. Ich hätte niemals gedacht, dass Steve zu der Sorte Mann gehört.“
„Das ist ja das Traurige. Ich konnte es doch genauso wenig glauben – nicht einmal, als ich den Beweis mit eigenen Augen sah.“
„Ich werde ihn nicht mehr wiedersehen.“ Für Colette stand diese Entscheidung fest. Christians Mitteilung und ihre eigene instinktive Reaktion auf Steve reichten aus, um zu wissen, dass Jeanine ihr die Wahrheit gesagt hatte. Tief in ihrem Inneren hatte sie gespürt, dass etwas nicht stimmte, aber sie hatte es nicht benennen können. Weil sie ihren eigenen Instinkten nicht vertraut hatte, war es Christians Briefchen gewesen, das sie veranlasste, Steves Exfrau anzurufen. Woher Christian seine Informationen über Steve hatte, wusste sie nicht.
„Du bist eine kluge Frau“, sagte Jeanine. „Ich bezweifele, dass viele Frauen, bevor sie sich auf einen Mann einlassen, dessen Exfrau kontaktieren.“
Colette klärte sie nicht auf, aber sie war nicht annähernd so klug, wie Jeanine glaubte. Ohne Christian Dempsey hätte sie die Beziehung zu Steve wahrscheinlich weiterlaufen lassen – eine Beziehung, die ihr am Ende das Herz gebrochen hätte.
21. KAPITEL
„Egal, wie viel Talent, Leidenschaft und Kreativität man für das Stricken mitbringt – man kann nur so gut sein, wie die Wolle, die man verwendet.“
– Rebecca Deeprose, www.arizonaknittingandneedle point.co m
Lydia Goet z
Wieder einmal diskutierten Margaret und ich miteinander und beschlossen dann, unserer Mutter nichts von dem Autodiebstahl und dem Überfall auf Julia zu erzählen. Moms körperlicher und emotionaler Zustand war zerbrechlich – und diese Entwicklung schritt unaufhaltsam voran. Es wäre zu viel für sie gewesen.
Wir dachten dabei jedoch nicht an ihr intuitives Gespür für das Wohlbefinden ihrer Kinder.
Keiner von uns sagte ein Wort, aber irgendwie spürte Mom, dass etwas nicht stimmte.
Sie fragte ständig, ob alles in Ordnung sei – und ich versicherte ihr wieder und wieder, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche.
„Lydia“, sagte sie, als ich an diesem Tag ihre Zimmertür öffnete. „Wo ist Margaret?“
Eine solche Begrüßung hatte ich mir nicht vorgestellt – und das nicht nur, weil Moms Worte mich daran erinnerten, dass Margaret ihr immer nähergestanden hatte als ich. „Sie ist im Laden“, erklärte ich und betrat ihr Zimmer. „Heute Nachmittag ist nicht so viel los, und ich dachte, ich nehme mir ein bisschen Zeit, um dich zu besuchen.“ Dabei erwähnte ich nicht, dass Margaret absichtlich nicht mitgekommen war.
Mom saß in ihrem Lieblingssessel vor dem Fernseher, der ihr Hauptquell der Unterhaltung geworden war. Früher hatte sie den Apparat nur selten eingeschaltet. Doch inzwi schen lief der Fernseher andauernd. Manchmal fragte ich mich, ob Mom die Flimmerkiste überhaupt
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