Die Farben der Sehnsucht
Minuten. „Das ist mit Sicherheit der nervenaufreibendste Zeitvertreib, den ich jemals ausprobiert habe. Wann spürt man denn endlich die Entspannung?“
„Das geschieht von ganz allein“, erklärte Alix den beiden. „Plötzlich strickt ihr und müsst nicht einmal mehr die Maschen zählen. Das erste Projekt, das ich gestrickt habe, war eine Babydecke. Nach jeder einzelnen Reihe musste ich anhalten und nachzählen, ob ich auch nicht aus Versehen eine Masche hinzugestrickt oder verloren hatte. Im Vergleich zu der Decke ist der Gebetsschal, den ihr strickt, echt einfach.“
Ich musste zugeben, dass Alix recht hatte. Die Babydecke war ein ambitioniertes Projekt gewesen. Ich hatte mich damals dafür entschieden, weil für die Umsetzung bestimmt zehn Unterrichtsstunden erforderlich waren. Wenn ich mit einem kleineren Projekt, wie zum Beispiel einem Waschlappen, angefangen hätte, wäre ich wahrscheinlich mit ein oder vielleicht zwei Unterrichtsstunden hingekommen. Die Herstellung der Babydecke hatte die Unterrichtseinheiten, die ich dafür angesetzt hatte, schließlich durchaus gerechtfertigt.
„Für wen strickst du denn den Gebetsschal?“, fragte ich Susannah.
„Für meine Mutter“, antwortete sie, ohne zu zögern. „Es geht ihr wirklich gut. Besser als ich erwartet hätte, nachdem wir sie … nachdem ich sie in eine Einrichtung für betreutes Wohnen in ihrem Heimatort Colville gebracht habe.“
„Meine Mutter ist auch in einer Einrichtung für Senioren“, sagte ich. „Aber es ist bestimmt nicht einfach, so weit entfernt von ihr zu sein.“ Margaret und ich teilten uns die Verantwortung, nach Mom zu sehen und Zeit mit ihr zu verbringen.
Wir hatten Mom noch nicht erzählt, was mit Julia geschehen war. Es hätte sie nur aufgeregt. Ich fürchtete, dass sie bereits etwas ahnte, weil Margaret schon seit einigen Tagen nicht zu Besuch gewesen war. Doch Mom schien das bisher nicht aufgefallen zu sein.
„So schlimm ist es nicht“, entgegnete Susannah und beantwortete damit meine Frage. „Mom und ich telefonieren jeden Tag.“ Sie hielt inne und schob konzentriert die Zunge ein Stückchen heraus, als sie vorsichtig den Faden um die Stricknadel legte. „Ich habe eine gute Freundin, die ab und zu bei Mom vorbeifährt und mir dann Bescheid gibt, wie es ihr geht.“
„Was täten wir nur ohne gute Freunde“, sagte ich und bemerkte, wie Alix unvermittelt aufsah. Sie wirkte gelassener als zu Beginn der Stunde.
„Was ist mit dir, Alix? Hast du dich schon entschieden, wem du den fertigen Gebetsschal schenken wirst?“
Sie nickte. „Zuerst dachte ich, ich behalte ihn für mich. Ich werde ganz sicher die Hilfe von oben benötigen, um diese Hochzeit zu überstehen – so viel ist sicher.“ Sie grinste, schüttelte den Kopf und strickte weiter. „Aber ich werde ihn Jordans Großmutter schenken. Ich denke, ihr wird die Vorstellung gefallen, dass ich ihn extra für sie gestrickt habe.“
„Da bin ich mir sicher“, entgegnete ich. „Und was ist mit dir, Colette?“
Sie hielt den Blick gesenkt. „Ich werde den Schal wohl behalten. Klingt das egoistisch?“
„Überhaupt nicht“, beruhigte ich sie.
Ich bemerkte, dass der Zauber des Strickens uns bereits alle erfasst hatte.
Alix war gestresst und schlecht gelaunt angekommen. Der Gedanke an die Hochzeit hatte sie nervös gemacht. Colette hatte – aus Gründen, die ich nicht kannte – ebenfalls nervös und unglücklich gewirkt. Ich war noch immer aufgewühlt, weil meiner Nichte und Margaret etwas Schreckliches zugestoßen war. Und Susannah hatte mit der Eröffnung und dem Führen eines eigenen Geschäftes ihre ganz persönlichen Kämpfe auszufechten.
Doch jetzt entspannten wir uns, unterhielten uns, lachten gemeinsam, strickten. Das Stricken verband uns.
7. KAPITEL
Alix Townsen d
Alix hatte Feierabend. Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, setzte sich im Hinterzimmer der Bäckerei an den Tisch für Mitarbeiter und legte ihre Füße auf einen Stuhl. Das French Caf é florierte, und Alix gefiel die Vorstellung, dass sie Anteil an diesem Erfolg hatte. Ihre Muffins, Kuchen, Kekse, süßen Brötchen und Torten, die sie jeden Morgen ganz frisch buk, hatten eine Menge Stammkunden angezogen.
Molly, eine der Baristas, schob ihren Kopf durch die Küchentür. „Jordan ist da“, verkündete sie in einem Ton, als wollte sie Alix dazu beglückwünschen, einen Mann wie Jordan getroffen zu haben. Doch das wusste Alix schon.
„Jordan? Hier? Jetzt?“, fragte sie.
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