Die Farben der Zeit
einen gelackt aussehenden Fisch auf die Gabel und hielt ihn mir hin. »Bückling?«
Ich entschied mich für Porridge.
Verity nahm ihren Teller und setzte sich damit ans untere Ende des riesigen Tisches. »Was geschah nach dem Angriff?« fragte sie und bedeutete mir, mich neben sie zu setzen. »Fanden Sie einen Hinweis, daß sich des Bischofs Vogeltränke während des Angriffs in der Kirche befand?«
Ich wollte gerade sagen: »Die Kirche wurde völlig zerstört«, als mir etwas einfiel. »Ja«, sagte ich stirnrunzelnd. »Einen versengten Blumenstengel. Außerdem fanden wir den gußeisernen Ständer, auf dem des Bischofs Vogeltränke stand.«
»Handelte es dabei um eine Blume, wie sie in der Gottesdienstordnung aufgeführt war?«
Ich öffnete schon den Mund, um zu sagen: »Das konnte man beim besten Willen nicht mehr feststellen«, als die Tür aufging und Jane wieder hereinkam. Sie knickste. »Tee, Ma’am?«
»Ja, danke, Colleen«, sagte Verity.
»Warum nannten Sie sie Colleen?« fragte ich, sobald das Mädchen verschwunden war.
»Sie heißt so«, erwiderte Verity. »Doch Mrs. Mering meint, der Name schicke sich nicht für ein Dienstmädchen. Klingt zu irisch. Im Moment sind englische Bedienstete in Mode.«
»Und so hat sie einfach den Namen des Mädchens geändert?«
»Das ist ganz üblich. Mrs. Chattisbourne nennt alle ihre Mädchen Gladys, und so braucht sie sich nicht zu merken, um welche es sich handelt. Hat man Sie nicht entsprechend vorbereitet?«
»Ich wurde überhaupt nicht vorbereitet«, sagte ich. »Zwei Stunden Sublimationskassetten, Realzeit, denen ich nicht in der Lage war, richtig zu folgen. Handelten überwiegend von der dienenden Rolle der Frau. Und von Fischgabeln.«
Verity schaute mich erschrocken an. »Man hat Sie nicht vorbereitet? Die victorianische Gesellschaft legt größten Wert auf das richtige Benehmen. Verstöße dagegen werden sehr ernst genommen.« Sie sah mich neugierig an. »Wie haben Sie es überhaupt bis jetzt schaffen können?«
»Die letzten beiden Tage war ich auf dem Fluß, zusammen mit einem Professor aus Oxford, der Herodot, und einem liebeskranken jungen Mann, der Tennyson zitiert, einer Bulldogge und einer Katze«, sagte ich. »Ich hab’ mich so durchgemauschelt.«
»Das wird hier nicht mehr klappen. Sie müssen irgendwie eingewiesen werden. Also gut, hören Sie zu.« Sie lehnte sich über den Tisch. »Ein kurzer Überblick. Förmlichkeit ist ein und alles. Man sagt nicht, was man denkt. Euphemismen und Höflichkeit sind an der Tagesordnung. Kein körperlicher Kontakt zwischen den Geschlechtern. Ein Mann darf den Arm einer Dame nehmen, ihr in die Bahn oder über eine Schwelle zu helfen. Unverheiratete Männer und Frauen dürfen sich niemals allein zusammen aufhalten«, sagte sie, ungeachtet der Tatsache, daß wir es waren. »Es muß stets eine Anstandsdame anwesend sein.«
Wie auf Kommando tauchte Jane mit zwei Tassen Tee auf und stellte sie vor uns.
»Bedienstete werden beim Vornamen gerufen«, fuhr Verity fort, sobald Jane verschwunden war, »abgesehen vom Butler. Ihn ruft man Baine oder Mr. Baine. Und alle Köchinnen sind Mrs., egal, ob sie verheiratet sind oder nicht, also fragen Sie Mrs. Posey nicht nach ihrem Ehemann. Dieser Haushalt hat ein Stubenmädchen, das ist Colleen – ich meine Jane –, ein Küchenmädchen, einen Koch, einen Lakaien, einen Stallburschen, einen Butler und einen Gärtner. Sie hatten ein Zimmermädchen, eine Zofe und einen Laufburschen, aber die Herzogin von Landry stahl sie ihnen.«
»Stahl?« Ich langte nach dem Zucker.
»Man ißt keinen Zucker auf dem Porridge«, sagte Verity. »Außerdem hätten Sie läuten müssen, damit er Ihnen gereicht wird. Anderen Haushalten die Dienstboten wegzustehlen, ist hier eine Lieblingsbeschäftigung. Mrs. Mering stahl Baine von Mrs. Chattisbourne und ist gerade dabei, ihr auch ihren Laufburschen abspenstig zu machen. Man gibt auch keine Milch darauf. Und man flucht nicht in Gegenwart von Damen.«
»Und was ist mit Mumpitz?« fragte ich. »Oder Pah?«
»Pah, Mr. Henry?« fragte Mrs. Mering und rauschte ins Zimmer. »Worüber reden Sie so geringschätzig? Ich hoffe doch nicht über unser Kirchfest? Es kommt dem Restaurierungsfonds zugute, ein sehr wichtiges Projekt, Mr. Henry. Unsere arme Kirche muß dringendst restauriert werden. Meine Güte, das Taufbecken ist aus dem Jahr 1262! Und die Fenster! Hoffnungslos mittelalterlich! Wenn unser Fest erfolgreich wird, hoffen wir uns neue kaufen zu
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