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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Selbst Lady Schrapnells Urahnin blickte freundlich aus ihrem Rahmen.
    Ich öffnete die erste Tür links. Baine mußte mir etwas Falsches gesagt haben. Es war das Eßzimmer, nahezu ausgefüllt von einem massiven Mahagonitisch und einer noch massiveren Anrichte, auf der eine Anzahl zugedeckter silberner Platten stand.
    Auf dem Tisch sah ich Tassen, Schalen und Besteck, aber keine Teller, und es war niemand im Raum. Gerade wollte ich hinausgehen, um nach dem Frühstückszimmer zu suchen, als ich mit Verity zusammenstieß.
    »Guten Morgen, Mr. Henry«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.«
    Sie trug ein hellgrünes Kleid, in dessen Oberteil winzige Paletten eingestickt waren, und hatte ihr braunes Haar mit einem grünen Band hochgebunden. Ich brauchte ganz offensichtlich noch eine Menge mehr Schlaf, um mich von der Zeitkrankheit zu erholen. Ich bemerkte Schatten unter ihren grünbraunen Augen, aber ansonsten war sie immer noch das schönste Geschöpf, das ich je gesehen hatte.
    Verity ging zur Anrichte hinüber. »Das Frühstück steht hier angerichtet«, sagte sie und nahm einen Teller mit Blumenrand von einem großen Stapel. »Die anderen werden auch gleich herunterkommen.«
    Sie lehnte sich vor, um mir den Teller zu geben. »Es tut mir so leid, daß ich Lady Schrapnell gesagt habe, Sie wüßten, wo des Bischofs Vogeltränke ist«, sagte sie. »Die Zeitkrankheit muß mich mehr erwischt haben, als ich ahnte, aber das ist keine Entschuldigung, und ich wollte Ihnen sagen, daß ich alles tun werde, um Ihnen zu helfen. Wann wurde sie zum letzten Mal gesehen?«
    »Ich sah sie am neunten November 1940 nach der Andacht für die Royal Air Force und dem Kuchenverkauf.«
    »Und danach sah sie keiner mehr?«
    »Danach kam keiner mehr durch, bis der Angriff vorbei war. Erhöhter Schlupfverlust, Krisenpunkt – Sie erinnern sich?«
    Jane kam mit einem Topf Marmelade herein, stellte ihn auf den Tisch, knickste und eilte wieder hinaus. Verity ging zu einer der zugedeckten Platten, deren Haube die Darstellung eines springenden Fisches als Griff hatte.
    »Und nach dem Angriff war sie nicht in den Trümmern?« fragte sie und hob die Haube am Fisch hoch.
    »Nein«, sagte ich. »Großer Gott, was ist das?« Ich starrte auf ein Bett grellgelben Reises, in dem vereinzelte weiße Streifen zu sehen waren.
    »Kedgeree«, sagte Verity und nahm sich einen kleinen Löffel davon. »Curryreis mit geräuchertem Fisch.«
    »Zum Frühstück?«
    »Das Gericht stammt aus Indien. Der Colonel liebt es.« Sie deckte die Platte wieder zu. »Und keiner der Zeitgenossen erwähnte, sie zwischen dem neunten und der Nacht, als der Angriff stattfand, noch einmal gesehen zu haben?«
    »Sie wurde in der Gottesdienstordnung vom zehnten erwähnt, unter Blumenarrangements, also müßte sie während dieses Gottesdienstes noch da gewesen sein.«
    Sie ging zu der nächsten Platte, deren Haube ein großer Hirsch mit Geweih zierte. Ich überlegte kurz, ob es sich dabei um eine Art Geheimcode handelte, aber auf der nächsten Haube grinste gefräßig ein Wolf, und so verwarf ich den Gedanken wieder.
    »Als Sie sie am neunten sahen«, sagte Verity, »fiel Ihnen da irgend etwas Ungewöhnliches daran auf?«
    »Sie haben des Bischofs Vogeltränke noch nie gesehen, nicht wahr?«
    »Ich meine, ob sie vielleicht umgestellt wurde oder beschädigt war. Haben Sie irgend etwas Verdächtiges bemerkt, zum Beispiel, daß sich jemand in der Nähe herumtrieb?«
    »Sie leiden immer noch an der Zeitkrankheit«, sagte ich.
    »Nein.« Ihre Stimme klang indigniert. »Des Bischofs Vogeltränke ist verschwunden, aber sie kann sich nicht in Luft aufgelöst haben. Also muß jemand sie an sich genommen haben, und falls dem so ist, muß es einen Hinweis auf diesen Jemand geben. Haben Sie irgend jemanden in der Nähe stehen sehen?«
    »Nein«, entgegnete ich.
    »Hercule Poirot sagt, daß es stets etwas gibt, das keinem aufgefallen ist oder von allen für unwichtig gehalten wurde«, sagte Verity und hob den Hirsch am Geweih hoch. Darunter befand sich eine Masse streng riechender brauner Objekte.
    »Was ist das?«
    »Scharfe Nierchen«, sagte sie. »Geschmort in Chutney und Senf. Bei Hercule Poirot gibt es immer eine winzige Sache, die nicht hineinpaßt, und das ist dann des Rätsels Lösung.« Sie packte einen grimmig aussehenden Bullen bei den Hörnern. »Das ist Moorhuhn.«
    »Gibt es keine Eier mit Speck?«
    Verity schüttelte den Kopf. »Nur für die unteren Schichten.« Sie spießte

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