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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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gesteckt? Ich bin fast erfroren.«
    Verity beeilte sich, den Schal um Mrs. Merings Schultern zu legen.
    »Haben Sie Baine gesagt, daß wir Tee wünschen?« fragte Mrs. Mering.
    »Ich bin gerade auf dem Weg«, sagte ich, die Hand auf dem Türknauf. »Ich traf Miss Brown unterwegs und begleitete sie zurück.« Schnell schlüpfte ich hinaus.
    Ich erwartete, Baine tief in die Lektüre von Toynbees Die Industrielle Revoulution oder Die Abstammung des Menschen von Darwin versenkt zu finden, aber sein Buch lag offen auf dem Sitz neben ihm, und er starrte aus dem Fenster in den Regen hinaus. Und dachte offenbar über seinen ästhetischen Ausbruch und die Konsequenzen, die dieser haben könnte, nach, denn er fragte beklommen: »Darf ich Ihnen eine Frage über die Vereinigten Staaten stellen, Mr. Henry? Sie waren doch dort. Stimmt es, daß Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist?«
    Hätte ich doch bloß neunzehntes Jahrhundert studiert! Das einzige, was mir einfiel, war ein Bürgerkrieg und verschiedene Goldfieberperioden. »Es ist auf jeden Fall ein Land, wo es jedem freisteht, seine Meinung zu äußern«, sagte ich. »Und wo jeder es auch tut. Vor allem im westlichen Teil. Mrs. Mering wünscht Tee«, setzte ich hinzu und ging dann hinaus auf die hintere Plattform, wo ich mit meiner Pfeife stand, so tat, als rauchte ich und nun auch in den Regen starrte, der inzwischen zu nebligem Nieseln geworden war. Schwere Wolken hingen grau über den morastigen Straßen, an denen wir entlangratterten. Rückzug nach Paris.
    Verity hatte recht. Wir mußten der Sache ins Auge sehen. Mr. C würde sich weder in Reading noch sonstwo blicken lassen. Wir hatten probiert, den Riß im Kontinuum zu flicken, indem wir die zerrissenen Fäden wieder zusammenzuknüpfen versuchten und Tossie am richtigen Tag zum richtigen Ort brachten.
    Aber in einem chaotischen System gab es so etwas wie einen einfachen Riß nicht. Jedes Ereignis war mit jedem anderen verknüpft. Als Verity in die Themse watete, als ich die Gleise zum Bahnhof entlangging, waren Tausende und Abertausende anderer Ereignisse davon betroffen. Eingeschlossen auch der Aufenthaltsort von Mr. C am 15. Juni 1888. Wir hatten auf einen Schlag alle Fäden zerrissen, und das Material, aus dem das Raumzeitgefüge gewoben ist, hatte sich aufgelöst.
    »›Fort flog das Netz, trieb weit umher‹«, sagte ich laut. »›Der Fluch hat mich ereilt, sprach das Fräulein von Shalott.‹«
    »Häh?« Ein Mann öffnete die Tür und trat auf die Plattform. Er war untersetzt, mit einem ungeheuer großen Kaiserbart, und hielt eine Meerschaumpfeife in der Hand, die er energischst stopfte. »Was für’n Fluch?«
    »Tennyson«, sagte ich.
    »Lyrik«, brummte er. »Alles Mist, wenn Sie mich fragen. Kunst, Bildhauerei, Musik – zu was soll das auf der Welt nutze sein?«
    »Ganz meine Meinung.« Ich streckte die Hand aus. »Guten Tag. Ich heiße Ned Henry.«
    »Arthur T. Mitford«, erwiderte er und zerquetschte mir fast die Finger.
    Nun, einen Versuch war es wert gewesen.
    »Glaube auch nicht an Flüche«, fuhr er fort, grimmig an seiner Pfeife saugend. »Oder ans Schicksal oder die Vorsehung. Alles Mist. Ein Mann bestimmt seinen Weg selbst.«
    »Hoffentlich haben Sie da recht«, sagte ich.
    »Natürlich hab ich recht. Denken Sie an Wellington.«
    Ich klopfte den Tabak aus meiner Pfeife auf die Bahngleise und machte mich auf den Weg zurück zum Abteil. Denken Sie an Wellington! Und an die Jungfrau von Orleans. Und an John Paul Jones. [68] Sie haben gewonnen, als alles bereits verloren schien.
    Und das Kontinuum war zäher als es aussah. Es gab Schlupfverluste und Backups und Überzähligkeiten. »Treffen wir uns nicht an diesem Ort, werden wir uns an jenem treffen.« Und falls dem so war, stimmte es, was ich Verity gesagt hatte, und Mr. C könnte auf dem Bahnsteig in Reading sein. Oder just in diesem Moment in unserem Abteil, unsere Fahrkarten lochend oder mit einem Bauchladen Süßigkeiten verkaufend.
    War er aber nicht. Baine war da, reichte Porzellantassen herum und goß Tee ein, der unglücklicherweise auf Mrs. Mering einen aufmunternden Effekt hatte. Sie setzte sich aufrecht hin, arrangierte ihren Schal und begann, uns alle der Reihe nach herunterzuputzen.
    »Tossie«, sagte sie. »Sitz gerade und trink deinen Tee. Du warst diejenige, die Tee wollte. Baine, warum haben Sie keine Zitrone mitgebracht?«
    »Ich werde schauen, ob es im Bahnhof welche zu kaufen gibt, Madam«, sagte er und

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