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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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ihr, die Organzarüschen hingen schlaff herab. Die goldblonden Löckchen verwandelten sich gerade in Krause.
    »Wir hätten wenigstens zum Tee bleiben können, Mama«, nörgelte sie. »Der Kurator hätte uns gern eingeladen, da bin ich mir sicher. Das war ja schließlich nicht der letzte Zug heute. Wenn wir den um fünf Uhr sechsunddreißig genommen hätten, wäre uns noch genügend Zeit zum Teetrinken geblieben.«
    »Wenn man eine furchtbare Vorahnung hat«, sagte Mrs. Mering, die sich offenbar wieder etwas erholt hatte, »hält man sich nicht mit Teetrinken auf.« Sie wedelte mit dem Taschentuch, und ein weiterer Schwall Veilchenduft warf mich fast um. »Ich versuchte Mesiel klarzumachen, daß er mit uns kommen solle.«
    »Hat Ihre Vorahnung gesagt, daß Colonel Mering in Gefahr schwebt, Tante?« fragte Verity.
    »Nein«, sagte Mrs. Mering und bekam wieder den abwesenden, am Zahn fühlenden Blick. »Es… es ging um… Wasser…« Sie stieß einen kleinen Schrei aus. »Ob er in den Fischteich gefallen und ertrunken ist? Heute ist sein neuer Goldfisch angekommen.« Schwer ins Taschentuch atmend sank sie wieder in die Polster zurück.
    »Papa kann doch schwimmen«, meinte Tossie.
    »Vielleicht hat er sich den Kopf an der Steineinfassung angeschlagen«, beharrte Mrs. Mering unbeeindruckt. »Etwas Schreckliches ist geschehen. Ich fühle es!«
    Da war sie nicht die einzige. Ich warf Verity einen Seitenblick zu, die ganz verzweifelt aussah. Wir mußten uns dringend unter vier Augen unterhalten.
    »Kann ich Ihnen etwas holen, Mrs. Mering?« fragte ich. Mir fiel nichts ein, womit ich Verity unauffällig aus dem Abteil locken konnte. Ob ich den Schaffner unauffällig bitten konnte, ihr eine Nachricht zu geben? Dann fiel mir etwas Besseres ein. »Es ist ziemlich kühl hier. Soll ich Ihnen eine Reisedecke holen?«
    »Es ist kalt«, sagte Mrs. Mering. »Verity, geh und sag Jane, sie soll mir meinen Schottenschal bringen. Tossie, möchtest du deinen auch?«
    »Was?« Tossie starrte desinteressiert aus dem Fenster.
    »Deinen Schal«, wiederholte Mrs. Mering. »Möchtest du ihn?«
    »Nein!« erwiderte Tossie aufgebracht.
    »Unsinn«, sagte Mrs. Mering. »Hier drin ist es kalt. Verity, hol Tossies Schal.«
    »Ja, Tante Malvinia«, sagte Verity und ging hinaus.
    »Es ist wirklich kalt hier drinnen«, sagte ich. »Soll ich den Schaffner bitten, ein Öfchen zu bringen? Oder warme Ziegel für Ihre Füße?«
    »Nein. Warum, um alles in der Welt, willst du deinen Schal nicht, Tossie?«
    »Ich will meinen Tee«, sagte Tossie, das Gesicht zum Fenster gewandt. »Hältst du mich für ästhetisch ungebildet?«
    »Natürlich nicht«, erwiderte Mrs. Mering. »Schließlich sprichst du französisch. Wo wollen Sie hin, Mr. Henry?«
    Ich zog die Hand von der Abteiltür zurück. »Ich dachte, ich geh’ mal für einen Augenblick auf die Aussichtsplattform«, sagte ich und zog zur Untermauerung meiner Worte die Pfeife aus meiner Jacke.
    »Unsinn. Draußen regnet es in Strömen.«
    Geschlagen setzte ich mich wieder. Verity würde jeden Moment zurück sein, unsere Chance vertan. Ebenso vertan wie die in Coventry.
    »Mr. St. Trewes«, sagte Mrs. Mering, »gehen Sie und sagen Sie Baine, er soll Tee servieren.«
    »Ich mach’ das schon«, sagte ich, und flugs, noch ehe sie mich aufhalten konnte, war ich auf dem Gang. Möglicherweise war Verity mit dem Schal schon auf dem Rückweg. Wenn ich sie aufhalten konnte, bevor sie zum Ende des Zweite-Klasse-Wagens kam, dann…
    Eine Hand streckte sich aus dem vorletzten Zweite-Klasse-Abteil, packte mich am Ärmel und zog mich hinein. »Wieso haben Sie so lange gebraucht?« fragte Verity.
    »Es war nicht leicht, Mrs. Mering zu entkommen«, sagte ich und schaute den Gang hinunter, um sicherzugehen, daß niemand kam, bevor ich die Abteiltür hinter mir schloß.
    Verity zog die Rollos herunter. »Was machen wir jetzt? Das ist die Frage.« Sie setzte sich. »Ich war mir sicher, daß Tossie nach Coventry zu bringen, unsere Probleme lösen würde. Sie würde des Bischofs Vogeltränke sehen, Mr. Wie-immer-er-auch-heißt begegnen, ihr Leben würde sich verändern und die Inkonsequenz beseitigt sein.«
    »Wir wissen nicht, ob sie es nicht ist. Vielleicht hat sich ihr Leben verändert, und wir wissen es bloß noch nicht. Zum Beispiel durch diese Männer, die in Reading auf dem Bahnsteig standen, oder den Schaffner oder den Geistlichen. Oder den, der wie Crippen aussah. Oder Cyril. Wir dürfen nicht außer acht lassen, daß

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