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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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meinem Gesichtsfeld.
    Könnt ihr nicht mal stillstehen? dachte ich.
    »Es ist so ungerecht«, sagte sie. »Bristol wollen sie nämlich behalten. Bristol!«
    »Warum hat’s Coventry nicht geschafft?« fragte Jim und bewegte sich, so daß ich ihn auch nicht mehr sehen konnte.
    »Die Kirche von England hat verfügt, daß alle Kirchen und Kathedralen sich zu mindestens fünfundsiebzig Prozent selbst finanzieren müssen, und das bedeutet Touristen. Und die Touristen kommen nur, um Gräber und Schätze zu sehen. Canterbury hat seinen Beckett, Winchester Cathedral Jane Austen und einen marmornen schwarzen Tournaialtar. St. Martin’s-in-the-Field liegt in London zwischen Tower und Madame Tussaud. Wir hatten auch Schätze in Coventry. Leider wurden sie 1940 durch die Luftwaffe alle zerstört.«
    »In der neuen Kathedrale gibt es das Tauffenster«, wandte Jim ein.
    »Ja. Leider aber auch Buntglasfenster mit völlig falschem Lichteinfall und den häßlichsten Wandteppich, der jemals geschaffen wurde. Die Kirche sieht aus wie die Lagerhalle einer Fabrik. Das mittlere zwanzigste Jahrhundert war keine gute Periode für Kunst. Und auch nicht für Architektur.«
    »Aber sie kommen doch, um die Ruine der alten Kathedrale zu sehen, oder?«
    »Einige von ihnen. Aber nicht genügend. Bitty versuchte, den Bewilligungsausschuß davon zu überzeugen, daß es sich bei Coventry um einen besonderen Fall handelt, daß er von historischer Wichtigkeit ist, aber ohne Erfolg. Der Zweite Weltkrieg liegt lange zurück. Kaum einer erinnert sich mehr daran.« Sie seufzte. »Die Berufung wird ebensowenig nützen.«
    »Was passiert dann? Wird die Kirche geschlossen?«
    Anscheinend schüttelte sie den Kopf. »Das können wir uns nicht leisten. Die Diözese steckt zu tief in den roten Zahlen. Wir werden sie wohl verkaufen müssen.« Abrupt erschien sie wieder in meinem Blickfeld, das Gesicht starr. »Die Kirche des Jenseits, eine New-Age-Sekte, hat uns ein Angebot gemacht. Ouijabretter, Manifestationen, Gespräche mit Verstorbenen. Es wird ihn umbringen.«
    »Ist er dann vollkommen arbeitslos?«
    »Nein«, sagte sie trocken. »Religion ist überflüssig geworden, also gibt es kaum noch Geistliche. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Man hat ihm eine Stelle als Hauptkantor in Salisbury angeboten.«
    »Na, ist doch gut«, meinte Jim aufmunternd. »Salisbury steht nicht auf Liste der Unwichtigen, oder?«
    »Nein. Dort haben sie jede Menge Schätze. Und ihren Turner. Zu schade, daß er nicht auch in Coventry gemalt hat. Aber du verstehst mich nicht richtig. Bitty wird es nicht verkraften, die Kirche zu verkaufen. Er stammt direkt von Thomas Botoner ab, der die Originalkathedrale einst miterbaute. Er liebt sie. Er wird alles tun, um sie zu retten.«
    »Und du kannst überhaupt nichts tun, um ihm zu helfen?«
    »Doch«, sagte sie und schaute ihn fest an. »Das kann ich.« Sie holte tief Atem. »Deshalb bin ich hier. Ich will dich um einen Gefallen bitten.« Sie trat entschlossen auf ihn zu, worauf beide aus meinem Gesichtskreis verschwanden.
    »Ich dachte, wenn wir Leute durchs Netz zurückbringen könnten, um die Kathedrale zu sehen«, sagte sie, »wie sie niederbrannte, dann würden sie begreifen, was es bedeutet, wie wichtig es ist.«
    »Leute zurückbringen?« wiederholte Jim. »Wir haben schon Probleme damit, Prudence von der Wichtigkeit unserer Forschungssprünge zu überzeugen. Von Touristenausflügen brauchen wir gar nicht erst zu reden.«
    »Ich meine keine Touristenausflüge.« Ihre Stimme klang verletzt. »Nur ein paar ausgewählte Personen.«
    »Das Bewilligungskomitee?«
    »Und ein paar Videojournalisten. Wenn wir die Öffentlichkeit auf unserer Seite hätten, wenn sie es mit eigenen Augen sähen, begriffen sie vielleicht…«
    Jim mußte den Kopf geschüttelt haben, denn sie hielt inne und veränderte die Taktik. »Es muß ja nicht unbedingt direkt zum Luftangriff sein«, fügte sie rasch hinzu. »Wir könnten zu den Ruinen gehen, kurz danach – oder in die alte Kathedrale. Vielleicht mitten in der Nacht, wo sich niemand in der Kirche aufhält. Wenn sie die Orgel sehen könnten, die geschnitzten Misericordien mit dem Totentanz darauf, das Kinderkreuz aus dem fünfzehnten Jahrhundert… Wenn sie es selbst sähen, würden sie begreifen, was es hieß, die Kathedrale von Coventry schon einmal verloren zu haben, und sie würden es nicht noch einmal zulassen.«
    »Lizzie«, sagte Jim, und der Ton war unmißverständlich. Und sie hatte gewußt,

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