Die Farben der Zeit
dich an Der Mordfall Roger Ackroyd?«
»Das war ja was anderes, Miriam. Du wolltest unbedingt wissen, warum sie in den Zeitungen so ein Trara darum machten«, verteidigte sich Prinzessin Arjumand. »Ich konnte es nicht erklären, ohne auch gleichzeitig zu sagen, wer der Mörder ist. Jedenfalls, dieses Buch ist ganz anders als Der Mordfall Roger Ackroyd. Dieses Mädchen soll nämlich von jemanden dazu verleitet werden, den Mord zu begehen, oder zumindest denkt der Leser das. In Wahrheit aber…«
»Sag mir nicht, wie’s ausgeht«, unterbrachen sie die kleinen Füchse.
»Hab ich gar nicht vor«, entgegnete Prinzessin Arjumand hoheitsvoll. »Ich wollte bloß sagen, daß das, was du für das Verbrechen hältst, keines ist, und die Dinge nicht immer das sind, was sie scheinen.«
»Wie in Das Geheimnis des Füllfederhalters«, warf die mit Cyril drapierte ein. »Was man für das erste Verbrechen hält, erweist sich als das zweite. Das erste ist schon Jahre vorher passiert. Niemand weiß, daß das erste Verbrechen überhaupt begangen wurde, und der Mörder…«
»Sag’s nicht!« Die kleinen Füchse hielten sich die Ohren zu.
»Der Butler war’s«, sagte Cyril.
»Ich dachte, du hättest das Buch nicht gelesen.« Die kleinen Füchse nahmen die Hände von den Ohren.
»Habe ich auch nicht«, sagte die andere. »Aber es ist immer der Butler.« Und das Licht erlosch.
Dabei war es doch Tag, und selbst wenn es einen Kurzschluß gegeben hätte, wäre immer noch genügend Licht durch Blackwell’s Rundbogenfenster gefallen.
Ich streckte die Hand nach dem Bücherregal vor mir aus und betastete es vorsichtig. Es fühlte sich klamm und hart an, wie Stein. Ich machte einen vorsichtigen Schritt – und wäre beinahe ins Nichts gestürzt.
Mein Fuß hing halb über einem Abgrund. Ich wich zurück, taumelte und plumpste hart auf noch mehr Stein. Eine Treppe. Ich tastete herum, berührte eine rauhe Steinmauer, fühlte nach unten. Eine Wendeltreppe mit schmalen, keilförmigen Stufen. Ich war in einem Turm. Oder einem Verlies.
Die Luft roch kalt und etwas modrig. Also war es kein Verlies. Sonst hätte es entschieden schlimmer gerochen. Aber falls es ein Turm war, hätte Licht durch einen Fensterschlitz oben fallen müssen, und das tat es nicht. Also doch ein Verlies.
Oder, dachte ich hoffnungsvoll, die Zeitkrankheit hatte mich durch das ziellose Herumgespringe derartig erwischt, daß ich jetzt vollkommen blind war.
Ich suchte in meiner Tasche nach Streichhölzern und strich eins an der Mauer an. Von wegen. Steinmauern, Steinstufen um mich und über mir. Doch ein Verlies. Was hieß, Oxford 2018 konnte es nicht sein. Und auch nicht 1933.
Das siebzehnte Jahrhundert war eine Blütezeit der Verliese. Ebenso das sechzehnte. Eigentlich alle bis runter zum zwölften. Und davor war in England die Zeit der Pfahlbauten und Schweinekoben. Na, wunderbar… also Mittelalter. Gefangen in einem normannischen Verlies.
Oder in einer Ecke des Londoner Towers, wobei dann in Kürze jede Menge Touristen die Stufen hochkeuchen würden. Aber irgendwie glaubte ich das nicht. Im kurzen Aufflackern des Streichholzes hatten die Stufen nicht abgetreten gewirkt, und als ich die Wand abtastete, fühlte ich keinen Handlauf.
»Verity!« rief ich in die Finsternis. Das Echo meiner Stimme hallte von den Steinwänden wider und erstarb.
Ich erhob mich, drückte mich eng an die Mauer und begann ganz langsam die Treppe zu erklimmen, wobei ich mit dem Fuß nach der Kante der schmalen Stufen fühlte. Eine Stufe. Zwei. »Verity! Sind Sie hier irgendwo?«
Nichts. Ich fühlte nach der nächsten Stufe. »Verity!«
Ich trat auf die Stufe und sie gab unter meinem Gewicht nach. Ich verlor das Gleichgewicht, versuchte mich zu fangen, wobei ich mir die Hand aufschabte, und prallte zwei Stufen weiter unten hart mit dem Knie auf.
Falls Verity hier irgendwie gewesen wäre, hätte sie das gehört. Trotzdem rief ich wieder: »Verity!«
Ein explosionsartiger Lärm antwortete mir, ein wildes Flattern schwirrender Flügel, das klang, als käme es direkt auf mich zu. Fledermäuse. Auch das noch. Ich riß den Arm, den ich gar nicht sehen konnte, vors Gesicht.
Das Flattern verdreifachte sich, doch als ich angestrengt in die Dunkelheit blinzelte, konnte ich nichts erkennen.
Das Flattern kam direkt auf mich zu. Ein Flügel streifte meinen Arm. O je, die Fledermäuse konnten ja auch nichts sehen. Ich schlug in der Dunkelheit um mich, und das Flattern wurde noch heftiger, dann aber
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