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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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anhörte, aber so klang die Parkaufsicht immer. Und auf den Zetteln waren keine Hakenkreuze, ebensowenig wie auf dem Eisenbahnfahrplan darunter. »Einschreibfrist für das Frühjahrsemester abgelaufen. Sollten Sie Ihre Einschreibgebühr noch nicht bezahlt haben, wenden Sie sich umgehend an den Quästor.«
    Und unvermeidlich darunter: »Wohltätigkeitsbasar für die Seuchenwaisen, 5. April, 10-16 Uhr, St. Michaeli, Nordtor. Schnäppchen. Kunst und Kitsch, Liebhaberstücke. Alles zu Spottpreisen!«
    Nein, das war das gute alte England. Und die Große Seuche hatte uns auch heimgesucht.
    Ich studierte die Zettel. Nirgendwo stand eine Jahreszahl oder ein Datum, außer beim Flohmarkt von St. Michael’s, und da fehlte das Jahr. Am Schwarzen Brett im Balliol hatte ich schon Notizen gesehen, die weit über ein Jahr dort hingen.
    Ich ging zu den Fenstern, löste an einer Ecke das Klebeband und hob das Papier ab. Ich schaute auf Balliols viereckigen Innenhof an einem herrlichen Frühlingsmorgen. Die Fliederbüsche neben der Kapelle standen in voller Blüte, und der mächtige Baum in der Mitte des Hofes trieb gerade aus.
    Heutzutage stand ein Walnußbaum im Hof, der mindestens dreißig Jahre alt war. Also mußte es vor 2020 sein, aber nach der Großen Seuche, und, wie der Eisenbahnfahrplan bewies, bevor die Untergrundbahn Oxford erreicht hatte. Und nach der Entdeckung der Zeitreisen. Irgendwann zwischen 2013 und 2020.
    Ich ging zu den Computern zurück. Der mittlere Monitor blinkte. »Drücken Sie die Reset-Taste.«
    Ich tat es, und die Schleier über dem Netz senkten sich mit einem dumpfen Laut. Sie waren nicht transparent, sondern von einem dunklen Samtrot, das sie aussehen ließ als gehörten sie einem Amateurtheater.
    »Ziel?« blinkte der Bildschirm jetzt. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, welches Koordinatensystem sie in den Zwanzigern benutzt hatten. Dunworthy hatte mir erzählt, wie sie, ohne Pulhaskis Koordinaten, aufs Geratewohl losgesprungen waren, ohne Parameterüberprüfungen und Sicherheitsvorrichtungen im Netz und ohne Ahnung, wo sie ankommen und ob sie wieder zurückkehren würden. Die gute alte Zeit!
    Wenigstens aber verwendete der Computer Englisch und nicht irgendeinen primitiven Code. Ich tippte: »Jetziger Standort?«
    Der Schirm wurde schwarz, dann begann er wieder zu blinken. »Fehler.«
    Ich dachte eine Minute lang nach, bevor ich tippte: »Hilfe anzeigen.«
    Der Schirm wurde wieder schwarz und blieb es auch. Na, prima.
    Ich begann wahllos auf Funktionstasten zu hämmern. Der Monitor blinkte erneut: »Ziel?«
    Ein Geräusch kam von der Tür her. Entsetzt schaute ich mich nach einem Versteck um. Es gab keines. Außer dem Netz, wenn man es so bezeichnen wollte. Ich tauchte zwischen die samtroten Vorhänge und schloß sie hinter mir.
    Wer immer an der Tür war, hatte Schwierigkeiten, sie aufzubekommen und rüttelte und drückte eine Zeitlang, bis sie aufging.
    Ich zog mich in die Mitte des Netzes zurück und blieb bewegungslos stehen. Die Tür schloß sich, dann trat Stille ein.
    Ich hörte mit angehaltenem Atem. Nichts. Hatte der Jemand es sich anders überlegt und den Raum wieder verlassen? Ich trat vorsichtig einen Schritt an den Rand und zog die Vorhänge einen Millimeter auseinander. Eine wunderschöne junge Frau stand an der Tür, biß sich auf die Lippe und schaute mich direkt an.
    Ich unterdrückte den Impuls, sofort zurückzuweichen. Sie hatte mich nicht gesehen. Ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt das Netz sah, so geistesabwesend, wie sie schien.
    Sie trug ein wadenlanges weißes Kleid, das aus jeder Zeit ab 1930 stammen konnte, und hatte ihr langes rotes Haar zu einem Pferdeschwanz hochgeschlungen, wie es zur Jahrtausendwende üblich gewesen war, aber das bedeutete nicht notwendigerweise etwas. Historikerinnen in den Fünfzigern trugen diese Frisur auch, zusammen mit Zöpfen und Haarreifen und Spangen, allem möglichen, um die langen Haare hochzustecken, damit sie während des Sprungs aus dem Weg waren.
    Die junge Frau wirkte jünger als Tossie, war es aber wahrscheinlich nicht. Sie trug einen Ehering, und erinnerte mich entfernt an jemanden. Nicht an Verity, obwohl sie eine ebenso entschlossene Miene hatte. Auch nicht an Lady Schrapnell oder eine ihrer Ahninnen. Jemandem, den ich auf einem meiner Wohltätigkeitsbasare getroffen hatte?
    Ich kniff die Augen zusammen, um sie besser fixieren zu können. Mit dem Haar stimmte was nicht. Sollte es heller sein? Vielleicht

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