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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Gepäckträger erklärte, welche Koffer sie besaßen, klang ihre Stimme melodiös und wohlgesetzt.
    »Ich sagte dir ja, er ist nicht hier, um uns abzuholen«, sagte die alte Dame mit einer Stimme, die eindeutig Lady Schrapnells Obertöne besaß.
    »Er wird bestimmt gleich hier sein, Tantchen«, sagte die junge Frau. »Vielleicht mußte er am College noch etwas erledigen.«
    »Papperlapapp«, sagte die alte Dame, ein Wort, das ich nie erwartet hatte, von irgend jemanden wirklich zu hören. »Er wird irgendwo beim Angeln sein. Entwürdigende Beschäftigung für einen erwachsenen Mann! Hast du ihm geschrieben, daß wir kommen?«
    »Natürlich, Tantchen.«
    »Und ihm hoffentlich auch die richtige Zeit mitgeteilt?«
    »Ja, Tantchen. Ich bin sicher, er wird gleich da sein.«
    »Und in der Zwischenzeit müssen wir hier in dieser fürchterlichen Hitze ausharren.«
    Das Wetter erschien mir eigentlich angenehm mild, aber ich trug auch kein schwarzes, bis zum Hals zugeknöpftes Wollkleid. Oder Spitzenhandschuhe.
    »Ich komme um vor Hitze«, sagte die alte Dame und fischte in einem perlenbesetzten Täschchen nach einem Taschentuch. »Mir ist ganz schwach. Vorsichtig damit!« donnerte sie dem Gepäckträger zu, der sich mit einem riesigen Koffer abmühte.
    »Ganz schwach«, sagte Tantchen und fächelte sich mit dem Taschentuch Luft zu.
    »Setzen Sie sich am besten hierhin, Tantchen.« Die junge Frau führte ihre Tante zu der Bank, die neben meiner stand. »Onkel wird bestimmt jeden Augenblick kommen.«
    Wuschhh, machten die Petticoats, als die alte Dame sich niederließ. »Nicht so!« raunzte sie den Gepäckträger an. »Das ist alles nur Herberts Schuld. Einfach zu heiraten! Und ausgerechnet, wenn ich nach Oxford komme! Nicht das Leder zerkratzen!«
    Es war offenkundig, daß keine dieser beiden Damen meine Kontaktperson war, aber zumindest schien ich keine Probleme mit dem Hören mehr zu haben. Und ich begriff, was sie sagten, was nicht immer in der Vergangenheit der Fall war. Bei meinem ersten Wohltätigkeitsbasar hatte ich nur eines von zehn Wörtern begriffen.
    Ebenso schien ich meinen Hang zur Rührseligkeit überwunden zu haben. Die junge Dame hatte ein hübsches herzförmiges Gesicht und noch hübschere Fesseln, von denen ich etwas Weißbestrumpftes erhascht hatte, als sie aus dem Zug stieg, aber ich fühlte keinen Hang, in verzückte Vergleiche mit himmlischen Geistern oder Naiaden auszubrechen. Besser noch, mir waren beide Begriffe ohne Schwierigkeiten eingefallen. Ich fühlte mich völlig geheilt.
    »Er hat uns komplett vergessen«, sagte Tantchen. »Wir werden eine Rutsche nehmen müssen.«
    Nun ja, vielleicht doch nicht ganz geheilt.
    »Es gibt wirklich keinen Grund für uns, eine Kutsche zu mieten«, erwiderte die junge Frau. »Onkel wird uns unmöglich vergessen haben.«
    »Warum ist er dann nicht hier, Maud?« fragte die alte Dame und ordnete ihre Röcke so, daß sie die ganze Bank einnahmen. »Und warum ist Herbert nicht hier? Heiraten! Dienstboten sollten nicht heiraten. Und wie ist es Herbert überhaupt gelungen, jemand passenden zu finden? Ich habe ihr strikt untersagt, sich Verehrer zuzulegen, also nehme ich an, daß es sich um jemand völlig unpassenden handelt. Jemanden aus einem Tanzpalast.« Sie senkte ihre Stimme. »Oder noch schlimmer.«
    »Soweit ich verstanden habe, lernten sie sich in einer Kirche kennen«, entgegnete Maud geduldig.
    »In der Kirche! Wie unstatthaft! Wie weit ist es mit der Welt gekommen? In meiner Jugend war Kirchgang Pflicht, keine gesellschaftliche Veranstaltung. Glaube mir, in hundert Jahren wird keiner mehr den Unterschied zwischen einer Kirche und einem Tanzpalast kennen.«
    Oder einem Einkaufszentrum, dachte ich.
    »Alle diese Predigten über christliche Nächstenliebe«, sagte Tantchen. »Wo sind die Predigten geblieben, die von Pflichterfüllung handelten und davon, daß jeder wußte, an welchen Platz er gehörte? Und von Pünktlichkeit. Dein Onkel könnte aus einer solchen Predigt viel lernen – wo gehst du hin?«
    Maud strebte der Eingangstür des Bahnhofsgebäudes zu. »Ich will auf die Uhr sehen«, sagte sie. »Ich dachte, daß der Grund für Onkels Verspätung vielleicht sein könnte, daß der Zug zu früh angekommen ist.«
    Ich zog hilfsbereit meine Taschenuhr hervor und öffnete sie, in der Hoffnung, daß ich mich daran erinnern konnte, wie man sie las.
    »Und läßt mich hier allein sitzen!« sagte Tantchen. »Mit Gott weiß was für Personen!« Sie winkte Maud mit

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