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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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eintreffen – aus Birmingham. Sollte ich hier meine Kontaktperson treffen? Oder erwartete man, daß ich ins Städtchen hineinging und sie dort traf? Hatte Dunworthy irgend etwas von einem Taxi gesagt? Sollte ich mir eine Droschke nehmen? »Nehmen Sie Verbindung auf…« hatte Dunworthy gesagt.
    Die Bahnhofstür sprang auf, und ein junger Mann schoß mit der gleichen Geschwindigkeit heraus wie gerade der Gepäckträger. Er war gekleidet wie ich, in einen weißen Flanellanzug, hatte einen ebenso schiefen Schnurrbart und in der Hand einen Strohhut. Er stürmte auf den Bahnsteig und lief rasch zum hinteren Ende, offenbar auf der Suche nach jemandem.
    Mein Kontaktmann, dachte ich hoffnungsvoll. Und zu spät war er dran, und deshalb war er auch vorher nicht hier gewesen, um mich abzuholen. Wie um das zu beweisen, hielt er inne, zog seine Taschenuhr heraus und schnippte sie mit bemerkenswerter Gewandtheit auf. »Ich bin zu spät dran«, sagte er und ließ die Uhr wieder zuschnappen.
    Und falls es mein Kontaktmann war, würde er sich als solcher zu erkennen geben, oder erwartete man von mir, daß ich flüsterte: »Psst, Dunworthy hat mich geschickt?« Oder gab es eine Art Code, auf den ich die Antwort wissen mußte, wie: »Das Schleieräffchen segelt um Mitternacht«, worauf ich antworten mußte: »Der Sperling hockt in der Fichte?«
    Ich wägte gerade: »Am Dienstag ist Vollmond« gegen das unverblümtere: »Entschuldigung, kommen Sie aus der Zukunft?« zu sagen ab, als der junge Mann zurückkam, mir im Vorbeigehen nicht mehr als einen beiläufigen Blick zuwarf, und dann zum anderen Ende des Bahnsteiges ging, wo er die Gleise entlang blickte. »Hör mal«, sagte er, als er zurückkam, »ist der 10 Uhr 55 aus London schon gekommen?«
    »Ja«, sagte ich. »Er fuhr vor fünf Minuten ab.«
    »Ahnt ich’s doch«, sagte er, setzte den Strohhut auf seinen Kopf und verschwand im Bahnhofsgebäude.
    Einen Moment später war er wieder da. »Hör mal«, sagte er, »hast du zufällig irgendwelche ältlichen Wittfrauen gesehen?«
    »Wittfrauen?« Ich fühlte mich zu den Wohltätigkeitsbasaren zurückversetzt.
    »Zwei ehrenwerte Witwen, ›ins Dürre geraten, ins welke Laub‹«, [9] sagte er. »Gekrümmt und ausgedörrt vom Alter. ›Ihr seid alt, Vater William‹ [10] und so. Sie hätten im Zug aus London sein müssen. Ganz in pechschwarzer Seidenwolle, wie ich annehme.« Er sah mein verständnisloses Gesicht. »Zwei Damen fortgeschrittenen Alters. Ich sollte sie hier treffen. Sie sind sicher nicht hier gewesen und wieder fortgegangen, oder?« Er schaute kurz um sich.
    Er mußte die zwei Damen meinen, die gerade gegangen waren, aber er konnte unmöglich Tantchens Bruder sein, und Maud konnte man kaum als von fortgeschrittenem Alter bezeichnen.
    »Sie sollen beide ältlich sein?« erkundigte ich mich.
    »Antiquiert. Ich mußte schon einmal ihre Gesellschaft genießen, am Michaelistag zu Semesterbeginn. Hast du sie gesehen? Eine wahrscheinlich im Korsett und mit fichu, [11] die andere eine dürre Jungfer mit spitzer Nase, Blaustrumpf von oben bis unten und den Kopf voller sozialer Anliegen. Amelie Bloomer und Betsey Trotwood.«
    Dann waren es die beiden nicht gewesen. Die Namen stimmten nicht, und die Strümpfe, die ich aus dem Zug hatte steigen sehen, waren weiß gewesen, nicht blau.
    »Nein«, sagte ich. »Die habe ich nicht gesehen. Ein junges Mädchen war hier und eine…«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Meine beiden sind absolut vorsintflutlich oder wären es, wenn einer noch an die Sintflut glauben würde. Wie würde Darwin sie nennen – präpelasgianisch? Oder vortrilobitianisch? Er muß wieder die Züge verwechselt haben.«
    Er ging zu der Tafel, studierte den Fahrplan und wurde starr vor Ärger. »Vermaledeit!« sagte er, ein weiteres Wort, von dem ich immer geglaubt hatte, es existiere nur in Büchern. »Der nächste Zug aus London kommt erst um 3 Uhr 18, und dann wird es zu spät sein.«
    Er schlug mit dem Strohhut gegen sein Bein. »Na ja, das war’s dann wohl«, sagte er. »Ob ich in der Mitra [12] noch etwas aus Maggie herausschlagen kann? Sie hat immer ein paar Kronen übrig. Schade, daß Cyril nicht hier ist. Sie mag Cyril.« Er setzte den Strohhut wieder auf und ging ins Bahnhofsgebäude zurück.
    Von wegen Kontaktperson, dachte ich. Vermaledeit!
    Und der nächste Zug kam nicht vor 12 Uhr 36. Vielleicht hätte ich die Kontaktperson dort treffen sollen, wo ich gelandet war, und ich sollte besser mein Gepäck

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