Die Farben der Zeit
einem behandschuhten Zeigefinger zu sich. »Es gibt Männer«, sagte sie in bühnenreifem Flüsterton, »die sich an öffentlichen Plätzen aufhalten und dort auf ihre Chance warten, Frauen ohne Begleitung in Gespräche zu verwickeln.«
Ich ließ die Taschenuhr zuschnappen, steckte sie in die Westentasche zurück und versuchte so harmlos dreinzublicken, wie ich konnte.
»Ihr Ziel ist«, flüsterte Tantchen laut, »schutzlosen Frauen das Gepäck zu stehlen. Oder Schlimmeres.«
»Ich bezweifle, daß irgend jemand imstande ist, Ihr Gepäck hochzuheben, Tantchen, geschweige denn zu stehlen«, flüsterte Maud zurück, und meine Meinung über sie stieg steil an.
»Wie dem auch sei, du bist in meiner Obhut, weil mein Bruder nicht imstande zu sein scheint, uns abzuholen, und es ist meine Pflicht, dich vor schädlichen Einflüssen zu bewahren«, sagte Tantchen und warf mir einen düster umwölkten Blick zu. »Wir bleiben keinen Moment länger hier. Schaffen Sie das zur Gepäckaufbewahrung«, befahl sie dem Gepäckträger, dem es endlich gelungen war, die riesigen Koffer sowie mehrere große Hutschachteln auf einen Gepäckwagen zu hieven. »Und bringen Sie uns den Zettel dafür.«
»Der Zug fährt gleich ab, Madam«, protestierte er.
»Ich nehme den Zug nicht«, sagte sie. »Und besorgen Sie uns eine Droschke. Mit einem anständigen Kutscher.«
Der Gepäckträger schaute besorgt auf den Zug, der große Dampfwolken ausstieß. »Madam, es ist meine Pflicht, im Zug zu sein, wenn er abfährt. Sonst verliere ich meine Stellung.«
Ich überlegte, ob ich anbieten sollte, ihnen die Kutsche zu besorgen, aber ich hatte die Befürchtung, Tantchen könnte mich für Jack the Ripper halten. Oder war das ein Anachronismus? Hatte er seine Laufbahn 1888 schon begonnen?
»Schmonzes! Sie werden Ihre Stellung verlieren, wenn ich melde, wie unverschämt Sie Ihren Kunden gegenüber sind«, sagte Tantchen gerade. »Welche Eisenbahn ist das hier?«
»Die Great Western, Madam.«
»Nun, sie dürfte sich eigentlich nicht groß nennen, wo doch ihre Angestellten das Gepäck von Reisenden auf dem Bahnsteig stehenlassen, damit es von gewöhnlichen Kriminellen«, ein weiterer vielsagender Blick in meine Richtung, »gestohlen werden kann. Sie dürfte sich eigentlich nicht groß nennen, wo doch ihre Angestellten einer hilflosen alten Dame ihre Hilfe verweigern.«
Der Gepäckträger, der aussah, als stimmte er dem Wort hilflos nicht ganz zu, schaute auf den Zug, dessen Räder sich bereits zu drehen begannen, dann auf die Bahnhofstür, als ob er die Entfernung schätzte, tippte sich dann an die Kappe und schob den Karren ins Gebäude.
»Komm, Maud«, sagte Tantchen und erhob sich aus ihrem Krinolinennest.
»Aber wenn Onkel kommt? Vielleicht verfehlt er uns dann.«
»Das wird ihm eine Lehre sein, demnächst pünktlicher zu erscheinen«, sagte Tantchen. Sie rauschte davon.
Maud folgte ihrem eindrucksvollen Abmarsch und warf mir im Vorbeigehen ein entschuldigendes Lächeln zu.
Der Zug fuhr an, seine großen Räder drehten sich langsam, dann schneller, als er Dampf machte, und dann verließ er langsam den Bahnhof. Ich schaute sorgenvoll auf die Bahnhofstür, aber von dem bedauernswerten Gepäckträger war nichts zu sehen. Die Passagierwagen fuhren vorbei, dann der große grüngestrichene Gepäckwagen. Der Mann würde es nicht mehr schaffen. Der Schaffnerwaggon kam zuletzt mit schwingendem Außenlicht, und da schoß der Gepäckträger aus der Tür, rannte hinter dem Waggon her und machte einen großen Satz. Ich stand auf. Es gelang ihm, das Geländer mit einer Hand zu packen und sich auf die unterste Stufe zu ziehen, wo er sich keuchend festklammerte. Als der Zug den Bahnhof verließ, drohte der Gepäckträger wütend mit der Faust zur Bahnhofstür.
Zweifellos wird er in zukünftigen Zeiten Sozialist werden, dachte ich, und dabei mithelfen, die Labour Partei ins Parlament zu bringen.
Und was passierte wohl mit Tantchen? Ohne Zweifel würde sie alle ihr Verwandten überleben und ihren Dienstboten nichts in ihrem Testament vermachen. Ich hoffte, sie schaffte es bis in die Zwanziger und mußte sich mit Zigaretten und Charleston abfinden. Und für Maud hoffte ich, daß sie jemand passenden zum Heiraten fand, obwohl ich es kaum annahm, so wenig wie Tantchen sie aus den Augen ließ.
Ich saß einige Minuten sinnend da, über ihr Schicksal und das meine nachgrübelnd, das entschiedenermaßen weniger klar war. Der nächste Zug würde nicht vor 12 Uhr 36
Weitere Kostenlose Bücher