Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
Vom Netzwerk:
sicher noch in sächsischer Hand.«
    Wir marschierten wieder los, wobei wir uns vom Fluß fernhielten und ein wachsames Auge auf weiße Flecken hatten.
    In dem alten Gedicht kam Polly Vaughn ums Leben, weil ihr Liebster sie mit einem Schwan verwechselte. Sie hatte eine weiße Schürze getragen, und er hielt sie für einen Schwan und tötete sie mit einem Pfeil. Ich konnte es vollkommen nachempfinden. In Zukunft würde ich auch zuerst schießen und dann Fragen stellen.
    Die Nacht wurde noch finsterer, die Luft feuchter, die Büsche dorniger. Nirgendwo waren weiße Flecken oder glitzernde Augen. Man hörte kaum noch ein Geräusch. Als ich das letzte Stück Brot fallenließ und »Komm, Mieze!« rief, hallte meine Stimme in der schwarzen, schweigenden Leere um mich herum wider.
    Es blieb mir nichts anderes übrig, als der Sache ins Auge zu sehen. Die Katze war verschwunden, in der Wildnis verhungert oder von einem wütenden Schwan getötet worden. Vielleicht war sie auch im Schilf von Pharaos Tochter gefunden worden und hatte so den Lauf der Geschichte verändert. Cyril und ich jedenfalls würden sie nicht finden.
    Wie zur Zustimmung begann die Laterne zu qualmen. »Cyril, es ist zwecklos«, sagte ich. »Sie ist verschwunden. Komm, wir gehen zum Lager zurück.«
    Das war leichter gesagt, als getan. Ich hatte mehr Aufmerksamkeit auf die Suche nach der Katze als auf den Weg gerichtet, und die Büsche sahen alle gleich aus.
    Ich hielt die Laterne nach unten, um die Spur aus Brotkrumen zu entdecken. Dann erinnerte ich mich daran, daß Hänsel und Gretel ein weiteres Paar gewesen waren, das in Schwierigkeiten gesteckt hatte.
    »Zeig mir den Weg, Cyril«, sagte ich hoffnungsvoll, woraufhin er sich aufmerksam umschaute und dann auf die Hinterläufe hockte.
    Am besten wäre es natürlich gewesen, einfach dem Fluß zu folgen, aber dabei mußte man die Schwäne in Betracht ziehen, und sicher hatten die Wölfe nicht alle Brotkrumen aufgefressen. Ich versuchte es in einer anderen Richtung.
    Eine halbe Stunde später setzte Nieselregen ein, und der blätterbedeckte Untergrund wurde feucht und glitschig. Wir schlitterten voran wie die Sachsen, die bereits elf Tage marschiert waren. Und im Begriff waren, England zu verlieren.
    Ich hatte die Katze verloren. Ich hatte Stunden kostbarer Zeit vergeudet, ohne zu ahnen, daß sie in meiner Obhut war und sie dann entwischen lassen. Ich war mit einem vollkommen Fremden von dannen gezogen, hatte Terence dazu gebracht, eine wahrscheinlich wichtige Begegnung nicht einzuhalten und…
    Mir kam ein Gedanke. Ich war mit Terence losgezogen, und wir waren genau im richtigen Moment erschienen, um Professor Peddick vor einem nassen Grab zu bewahren. Was wäre geschehen, wenn Terence Maud getroffen hätte, oder war es vorgesehen, daß er sie nicht traf, damit er zur rechten Zeit am rechten Ort auftauchen konnte, um seinen Tutor zu retten? Oder war Professor Peddick zum Ertrinken verurteilt gewesen, und ich mußte seine Rettung zu meiner Liste von Vergehen hinzurechnen?
    Aber wenn es ein Vergehen sein sollte, dann gelang es mir nicht, mich deshalb allzu schuldig zu fühlen. Ich war froh, daß er nicht ertrunken war, obwohl mein Leben durch ihn viel komplizierter geworden war, und ich fing an zu verstehen, was Verity bei der Rettung der Katze empfunden hatte.
    Der Katze, die sich irgendwo hier im Regen verirrt hatte. Wie Cyril und ich auch. Ich hatte keine Ahnung, wo wir uns befanden, ich wußte nur, daß ich eine Baumreihe wie die vor mir oder ein Gestrüpp wie das hinter mir noch nie zuvor gesehen hatte. Ich hielt inne, drehte mich um und ging den Weg zurück, den wir gekommen waren.
    Und da war das Boot. Und die Lichtung. Und mein Bettzeug.
    Cyril sah es zuerst. Er machte einen Satz darauf zu, wedelte begeistert mit dem Schwanz und blieb dann wie vom Donner gerührt stehen. Ich hoffte, daß der Schwan nicht auf meinem Lager Wohnstatt bezogen hatte.
    Das hatte er auch nicht. Statt dessen lag hier, inmitten der Wolldecken, Prinzessin Arjumand und schlief tief und fest.

»In den kleinen grauen Zelten des Gehirns liegt die Lösung jedes Rätsels.«
    Hercule Poirot
     
9. Kapitel
     
     
    Meine erste Nacht im victorianischen Zeitalter • Enge • Schnarchen • Regen • Wie das Wetter den Lauf der Geschichte beeinflußt • Lungenentzündung • Die Katze ist verschwunden • Ein zeitiger Aufbruch • Professor Peddicks doppelkiemiger blauer Döbel ist verschwunden • Abingdon Ratschläge zum Rudern •

Weitere Kostenlose Bücher