Die Farben der Zeit
wieder auf dem Weg zum Boot. »›Die Nacht lädt ein zur Rast!‹« Er winkte mir zu. »›Wie süß, wenn wir nach eines Tages Müh’n und harter Arbeit Last in ihre träumend’ Arme flieh’n‹.« [43]
Damit hatte er zweifelsohne recht, aber zuerst mußte ich eine Katze finden. Ich ging zur Lichtung, um dort abzuwarten, bis alles schlief, und versuchte, nicht darüber nachzudenken, daß mit jeder Sekunde, in der die Katze frei herumlief, sich die Anzahl der Konsequenzen vervielfältigte.
Sie könnte von einem Wolf gefressen werden. Gab es im victorianischen England Wölfe? Sie könnte von einer alten Frau gefunden werden, die sie in ihr Bauernhäuschen mitnahm. Oder von einem vorbeifahrenden Boot aufgelesen werden.
Die Schleusen sind geschlossen, sagte ich zu mir selbst. Außerdem ist es nur eine Katze. Wieviel Einfluß kann schon so ein Tier auf die Geschichte haben?
Einen sehr großen. Man erinnere sich nur an Bucephalus, das Pferd von Alexander dem Großen, und an den »kleinen Gentleman im schwarzen Fellrock«, der Wilhelm den Dritten ums Leben brachte, als dessen Pferd in den Eingang des Maulwurfshügels trat.Und an Richard den Dritten, wie er auf dem Feld von Bosworth stand und rief: »Mein Königreich für ein Pferd!«Oder die Kuh von Mrs. O’Leary. [44] Oder Dick Whittingtons Katze. [45]
Ich wartete eine halbe Stunde, dann entzündete ich vorsichtig die Laterne. Ich holte die Dosen aus dem Versteck und zog den Büchsenöffner aus meiner Tasche. Und versuchte, die Dosen zu öffnen.
Es war mit Sicherheit ein Büchsenöffner. Terence hatte es gesagt. Er hatte die Pfirsichdose damit geöffnet. Zuerst stocherte ich mit der Spitze der Sichel auf dem Deckel herum, dann mit der Seite, schließlich mit dem abgerundeten entgegengesetzten Teil.
Zwischen beiden Teilen war ein Zwischenraum. Vielleicht paßte der eine Teil an die Außenseite der Dose, als eine Art Hebel für den anderen Teil. Oder vielleicht stieß man das Ding seitwärts ins Blech. Oder in den Boden. Möglicherweise hielt ich es falsch herum, und die Sichel war eigentlich der Griff.
Diese Idee verschaffte mir einen Schnitt in der Handfläche, was ja wohl der falsche Ansatz war. Ich suchte im Rucksack nach einem Taschentuch und wickelte es um die Hand.
Noch einmal von vorn, ganz methodisch. Die Spitze der Sichel mußte der Teil sein, der durchs Blech schnitt. Und durch den Deckel. Vielleicht gab es eine bestimmte Stelle im Deckel, wo sie hineinpaßte. Ich suchte sorgfältig nach einer solchen Schwachstelle, fand aber keine.
»Warum mußten die Victorianer alles so verdammt kompliziert machen?« fragte ich und sah im gleichen Moment nahe des Randes der Lichtung etwas aufflackern.
»Prinzessin Arjumand?« fragte ich leise, die Laterne hoch erhoben. Ich hatte zumindest in einem Punkt recht gehabt. Katzenaugen glühten in der Dunkelheit. Zwei davon glitzerten mich gelblich aus dem Buschwerk heraus an.
»Komm, Mieze«, sagte ich, hielt den Brotkanten hoch und schnalzte mit der Zunge. »Ich hab was für dich. Komm her.«
Die glühenden Augen blinzelten, dann verschwanden sie. Ich steckte den Brotkanten in meine Tasche zurück und näherte mich vorsichtig den Büschen. »Komm schon. Ich bringe dich nach Hause. Du willst doch nach Hause, oder?«
Schweigen. Oder zumindest fast Schweigen. Frösche quakten, Blätter raschelten, und die Themse floß mit einem ganz eigenen, gurgelnden Geräusch dahin. Nur von einer Katze war nichts zu hören. Welche Geräusche verursachten Katzen? Da alle Katzen, deren ich bis jetzt ansichtig geworden war, geschlafen hatten, war ich mir nicht sicher. Miauende Geräusche. Ja, Katzen miauten.
»Miau«, lockte ich und hob ein paar Äste hoch. »Miez, miez. Du willst doch nicht das Raumzeitgefüge zerstören, oder? Miau. Miau…«
Die Augen erschienen wieder, jenseits des Unterholzes. Ich kämpfte mich weiter voran und ließ dabei Brotkrumen fallen. »Miau?« Die Laterne schwang langsam von einer Seite zur anderen. »Prinzessin Arjumand?« Plötzlich wäre ich fast über Cyril gestolpert.
Er wackelte erfreut mit dem Hinterteil.
»Geh zurück zu deinem Herrchen und schlaf weiter«, zischte ich. »Du bist im Weg.«
Sofort senkte er seine flache Schnauze und begann, kreisförmig auf der Erde zu schnüffeln.
»Nein!« flüsterte ich. »Du bist kein Bluthund! Du hast nicht einmal eine richtige Nase. Geh zum Boot zurück!« Ich zeigte zum Fluß hinüber.
Der Hund hörte auf zu schnüffeln. Er schaute mich aus Augen
Weitere Kostenlose Bücher