Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)
Kleidungsstil. Ihr Nacken ist hell und lang. Ist sie es? Dreh dich um, Lettice Talbot, damit ich dein Gesicht sehen kann, denke ich. Mein Herz schlägt vor Furcht und Hoffnung schneller. Hätte ich mehr Mut, würde ich vorbeigehen und sie direkt anschauen, aber aus irgendeinem Grund kann ich es nicht. So zögere ich und bleibe dann wie angewurzelt stehen. Ich warte darauf, dass sie mich bemerkt. Was werde ich zu ihr sagen? Soll ich sie rufen? Wird sie sich an mich erinnern? Wird sie mir erklären, dass sie mich nicht verletzen wollte? Wie konnte ich bloß nur einen Augenblick lang an ihr zweifeln! Ich bin sicher, sie würde mir helfen. Ihre Bekannte nimmt sie am Arm, um ihr etwas im Hutmacherladen zu zeigen. Und schließlich dreht sie sich um, und es ist nicht Lettice Talbot, sondern nur ein ganz normales, unscheinbares Mädchen mit einer hübschen Haube unter ihrem Hut. Sie kaut auf ihrer Unterlippe, als würde sie überlegen, was sie kaufen soll, während sie in das Schaufenster starrt.
»… winzig kleine Fußspuren, so reizend«, höre ich sie sagen, als sie auf mich zukommen, »so ein Eichhörnchen!« Und sie kichert mit ihrer Freundin. Warum irre ich mich immer derart? Einen Moment später höre ich die Seide ihrer Röcke an mir vorüberrascheln, aber ich sehe sie nicht noch einmal an. Allmählich schlägt mein enttäuschtes Herz wieder ruhiger. Ein Schatten liegt über mir – es verfolgt mich, dass ich Lettice Talbot nicht wiederfinde.
25
Heute habe ich ein totes Kind auf einem Abfallhaufen gesehen.
Es drehte mir den Magen um, als ich es dort im Schein der frühen Morgensonne liegen sah. Der weiche kleine Körper lag verdreht und beschmutzt auf dem Haufen, als hätte jemand, irgendeine Frau, ihn in Eile aus einer Decke purzeln lassen, vielleicht in der Dunkelheit. Obwohl ich vor Schreck stehen blieb, habe ich es nicht über mich gebracht, mich hinunterzubeugen und das Kind genauer zu betrachten, und ich dankte Gott, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Der Haufen, auf dem es lag, dampfte ein bisschen in der kühlen Luft.
Wie konnte eine Frau einen kleinen Jungen unbekleidet und tot einfach liegen lassen? Seine wachsartigen, blutbefleckten Glieder hoben sich als ein Durcheinander aus makellosem Fleisch von der Düsternis des Unrats ab. Ein winziger Arm war seitlich ausgestreckt, sodass die fünf unbewegten kleinen Finger sich geöffnet hatten, als wollten sie etwas auffangen. Die Nabelschnur am Bauch sah frisch aus. Ich begann zu zittern, als ich das entdeckte, rannte zu einer Frau in der Nähe und zog sie am Ärmel.
»Kommt oft genug vor«, sagte sie, als sie sah, wohin ich zeigte. »Auch wenn wir es lieber nicht sehen würden.« Ihr Schal war mit Mottenlöchern übersät.
»Ein Neugeborenes, oder?«, fragte sie.
Ich nickte. »Es sieht so aus.«
»Nun ja«, sagte sie. Mit einem gewissen Ausdruck von Trauer zuckte sie die Schultern und wollte weitergehen.
»Was sollen wir tun?«, fragte ich.
»Tun?« Die Frau war verwirrt.
»Wem sollen wir Bescheid sagen, welcher Behörde? Damit es beerdigt werden kann und die Hunde und Ratten die Leiche nicht anfressen. Damit jemand Bescheid weiß und etwas unternehmen kann.«
»Die Leute wissen Bescheid«, sagte die Frau über die Schulter. »Das Problem ist nicht, dass es keiner weiß. Ich würde sagen, das Problem ist, dafür zu sorgen, dass es aufhört. Aber wo sollen sie anfangen?«
Einen Moment lang bleibe ich im hellen Sonnenlicht stehen.
Ich war nicht mutig genug, den toten kleinen Körper aufzuheben und zu einem Priester oder einem Polizisten zu bringen. Bestimmt würden sie denken, es wäre mein Kind. Genauso wäre es gewesen, wenn ich sie herbeigeholt hätte. Also habe ich zu meiner Schande genau das getan, was alle anderen an diesem grünen Frühlingsmorgen taten, als die Vögel sangen und der Geruch von frischen Fleischpasteten aus der Bäckerei drang. Ich bin einfach weiter die Cornhill Straße hinaufgegangen, als wäre mein Blick nie auf das Kind gefallen oder als hätte ich es zwar gesehen, aber es wäre mir gleichgültig. Als ich an die Ecke der Gracechurch Street kam, hatte sich eine Balladensängerin vor dem Two Bells postiert, zwei Frauen stritten sich auf der Straße, und die Uhr schlug die nächste halbe Stunde.
Ich will nicht mehr an den Anblick denken, ebenso wenig wie an die Trauer der Mutter.
* * *
In der Nacht tropft Milch aus meinen schweren Brüsten, sodass mein Leinennachthemd nasse Flecken hat, als ich aufwache. Es
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