Die Farm
abwärts nass und schmutzig. Er war barfuß, und sein Hemd war zerrissen. Er war offensichtlich zu Fuß gekommen.
»Wo ist Mr Chandler?«, fragte er.
Ich wusste nicht, welchen Mr Chandler er meinte. Ich hob meinen Pinsel auf, lief auf die Ostseite des Hauses und rief nach meinem Vater, der den Kopf zwischen zwei Maisstauden hervorsteckte. Als er Mr Latcher neben mir stehen sah, richtete er sich auf. »Was gibt’s?«, fragte er, als er rasch auf uns zukam.
Gran hörte unsere Stimmen und stand plötzlich auf der Veranda vor dem Haus, meine Mutter ebenfalls. So wie Mr Latcher aussah, wussten wir, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
»Das Wasser steht bei uns im Haus«, sagte er, unfähig, meinem Vater in die Augen zu blicken. »Wir müssen raus.«
Mein Vater sah zu mir, dann zu den Frauen auf der Veranda.
In ihren Köpfen waren die Rädchen bereits am Rattern.
»Können Sie uns helfen?«, fragte Mr Latcher. »Wir wissen nicht, wohin wir sollen.«
Ich dachte, er würde gleich in Tränen ausbrechen, und mir war auch danach zumute.
»Natürlich helfen wir Ihnen«, sagte Gran sofort und nahm die Sache in die Hand. Von nun an würde mein Vater tun, was seine Mutter von ihm verlangte. Und alle anderen auch.
Sie hieß mich Pappy holen. Er war im Geräteschuppen und beschäftigte sich mit einer alten Traktorbatterie. Alle scharten sich um den Pick-up, um einen Plan auszuarbeiten.
»Können wir bis zum Haus fahren?«, fragte Pappy.
»Nein, Sir«, sagte Mr Latcher. »Auf unserer Straße steht das Wasser hüfthoch. Die Veranda ist überschwemmt, und im Haus sind es fünfzehn Zentimeter.«
Ich konnte mir die vielen Latcher-Kinder in dem überfluteten Haus nicht vorstellen.
»Wie geht es Libby und dem Baby?«, fragte Gran, die nicht länger an sich halten konnte.
»Libby geht’s gut. Das Baby ist krank.«
»Wir brauchen ein Boot«, sagte mein Vater. »Jeter hat eins am Cockleburr Slough.«
»Er wird nichts dagegen haben, wenn wir es ausleihen«, sagte Pappy.
Ein paar Minuten lang diskutierten die Männer über die Rettungsmaßnahmen - wie sie das Boot holen wollten, wie weit der Pick-up fahren konnte, wie viele Fahrten nötig wären.
Unerwähnt blieb, wohin die Latchers gehen sollten, wenn sie erst einmal aus ihrem Haus gerettet waren.
Wieder übernahm Gran. »Ihr könnt zu uns kommen«, sagte sie zu Mr Latcher. »Unser Heuboden ist sauber - die Mexikaner sind gestern weg. Ihr habt einen warmen Platz zum Schlafen und genügend zum Essen.«
Ich sah sie an. Pappy sah sie an. Mein Vater blickte kurz zu ihr, betrachtete dann seine Füße. Eine Horde hungriger Latchers in unserer Scheune! Ein krankes Baby, das die ganze Nacht schreien würde. Unsere Essensvorräte verschenkt. Ich war entsetzt und wütend auf Gran, weil sie dieses Angebot machte, ohne es vorher mit uns zu besprechen.
Dann schaute ich zu Mr Latcher. Seine Lippen zitterten, und seine Augen waren nass. Er klammerte sich mit beiden Händen an seinen Strohhut und schämte sich so sehr, dass er den Blick nicht vom Boden hob. Nie zuvor hatte ich einen ärmeren, schmutzigeren, gebrocheneren Mann gesehen.
Ich blickte zu meiner Mutter. Auch ihre Augen schwammen in Tränen. Dann schaute ich zu meinem Vater. Ich hatte ihn nie weinen sehen, und auch jetzt weinte er nicht, aber Mr Latchers Leiden ging ihm sichtlich nahe. Mein Herz schmolz augenblicklich.
»Also dann los«, sagte Gran voll Autorität. »Wir machen die Scheune fertig.«
Wir setzten uns in Bewegung, die Männer stiegen in den Pick-up, die Frauen gingen zur Scheune. Gran fasste Pappy noch schnell am Ellenbogen und flüsterte: »Holt Libby und das Baby zuerst.« Es war ein Befehl, und Pappy nickte.
Ich kletterte auf die Ladefläche des Pick-ups neben Mr Latcher, der auf seinen dünnen Beinen hockte und schwieg.
An der Brücke hielten wir an, mein Vater stieg aus und begann, den Fluss entlangzugehen. Er sollte Mr Jeters Boot am Cockleburr Slough suchen und dann damit flussabwärts bis zur Brücke treiben, wo wir auf ihn warten würden. Wir fuhren über die Brücke und bogen in den Weg zu den Latchers, und keine dreißig Meter weiter stießen wir auf Morast. Vor uns war nur noch Wasser.
»Ich sag ihnen, dass Sie kommen«, sagte Mr Latcher und stapfte los durch den Schlamm und dann das Wasser. Bald reichte es ihm bis zu den Knien. »Vorsicht vor den Schlangen!«, rief er über die Schulter. »Sie sind überall.« Er watete durch einen See, der zu beiden Seiten von überschwemmten Feldern
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