Die Farm
wieder, aber es wurde keine Anklage erhoben. Die Täter flohen in der Nacht und wurden nie wieder gesehen. Niemand konnte sich an den letzten
»richtigen« Mord erinnern.
Das Gerede zog mich in den Bann. Wir saßen auf der Treppe vor der Kirche und blickten auf den Gehweg, der zur Main Street führte. Wir hörten den Männern zu, die miteinander stritten und darüber sprachen, was zu tun und zu lassen sei.
Ich schaute zum Co-op an der Straße, und einen Augenblick lang meinte ich, wieder Jerry Sisco vor mir zu sehen, sein Gesicht blutig, während Hank Spruill ihn zu Tode prügelte.
Ich war Zeuge gewesen, wie ein Mann getötet worden war.
Plötzlich verspürte ich den Drang, mich in die Kirche zu schleichen und zu beten. Ich wusste, dass ich mich irgendwie schuldig gemacht hatte.
Wir gingen langsam in die Kirche, wo die Mädchen und Frauen sich ihre Version der Tragödie zuflüsterten. Unter ihnen wuchs Jerrys Ansehen. Brenda, das sommersprossige Mädchen, das in Dewayne verknallt war, lebte nur fünfhundert Meter von den Siscos entfernt, und da sie praktisch Nachbarn waren, wurde ihr über Gebühr Aufmerksamkeit zuteil. Die Frauen waren eindeutig mitfühlender als die Männer.
Dewayne und ich fanden die Kekse im Gemeindesaal, gingen dann in unser kleines Klassenzimmer, bei jedem Schritt ganz Ohr.
Unsere Lehrerin, Miss Beverly Dill Cooley, die in der Highschool in Monette unterrichtete, begann mit einem ziemlich langen und wohlmeinenden Nachruf auf Jerry Sisco, einem armen Jungen aus einer armen Familie, einem jungen Mann, der nie eine Chance gehabt hatte. Dann mussten wir uns an den Händen fassen und die Augen schließen, während sich ihre Stimme an den Himmel wandte und Gott ausführlich darum bat, den armen Jerry mit Seiner Wärme in alle Ewigkeit zu umfangen. Bei ihr klang Jerry wie ein Christ und ein unschuldiges Opfer.
Ich blickte zu Dewayne, der mich mit einem Auge ansah.
Die Sache hatte etwas Seltsames. Als Baptisten wurde uns von der Wiege an beigebracht, dass man nur in den Himmel kam, wenn man an Jesus glaubte und versuchte, meinem Beispiel zu einwandfreies christliches Leben zu rühren. Es war eine schlichte Botschaft, die jeden Sonntagmorgen und jeden Sonntagabend von der Kanzel gepredigt wurde, und jeder Erweckungsprediger, der durch Black Oak kam, wiederholte die Botschaft laut und deutlich. Wir hörten sie in der Sonntagsschule, jeden Mittwochabend beim Gebets-gottesdienst und in den Ferien im Bibelunterricht. Sie fand sich in unserer Musik, in unseren Kirchenliedern, in unserer Literatur. Es war eine unzweideutige, unumstößliche, kompromisslose Botschaft, die keine Schlupflöcher bot, um sich herauszuwinden.
Und jeder, der Jesus nicht akzeptierte und kein christliches Leben führte, fuhr zur Hölle. Dort war jetzt Jerry Sisco, und wir alle wussten es.
Aber Miss Cooley betete weiter. Sie betete für alle Siscos in dieser Zeit der Trauer und des Verlusts, und sie betete für unsere kleine Stadt, die der Familie die Hand reichte, um ihr zu helfen.
Ich kannte keine Menschenseele in Black Oak, die den Siscos die Hand reichen würde.
Es war ein sonderbares Gebet, und als sie endlich »Amen«
sagte, war ich völlig verwirrt. Jerry Sisco war nie auch nur in der Nähe einer Kirche gewesen, aber Miss Cooley hatte gebetet, als wäre er in diesem Augenblick bei Gott. Wenn es Außenseiter wie die Siscos in den Himmel schafften, dann standen wir Übrigen nicht mehr unter Druck.
Dann fing sie wieder mit Jonas und dem Wal an, und eine Weile lang vergaßen wir den Totschlag.
* * *
Während des Gottesdienstes eine Stunde später saß ich auf meinem angestammten Platz in der Reihe, in der die Chandlers immer saßen, in der linken hinteren Hälfte, zwischen Gran und meiner Mutter. Die Reihen waren nicht gekennzeichnet oder reserviert, aber jeder wusste, wo sein Platz war. In drei Jahren, wenn ich zehn wäre, dürfte ich bei meinen Freunden sitzen, vorausgesetzt natürlich, dass ich mich nicht danebenbenahm.
Das hatte ich mir von beiden Elternteilen versprechen lassen.
Es hätten genauso gut noch zwanzig Jahre sein können.
Die Fenster waren geöffnet, aber die schwüle Luft stand reglos im Raum. Die Frauen fächelten sich Kühlung zu, während die Männer still dasaßen und schwitzten. Als Bruder Akers die Kanzel betrat, um zu predigen, klebte mir das Hemd am Rücken.
Er war wie immer zornig und begann nahezu sofort zu schreien. Augenblicklich attackierte er die Sünde; Sünde hatte in Black
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