Die Farm
Sünden heraufzubeschwören.
Selbstverständlich war mir - wie den meisten Kindern - die Predigt gleichgültig, aber der sonntägliche Kirchgang bestand aus mehr als nur dem Gottesdienst. Es war eine weitere Gelegenheit, andere zu treffen, Neuigkeiten auszutauschen und zu klatschen. Es war eine festliche Versammlung, und alle waren gut gelaunt oder taten zumindest so. Alle Sorgen der Welt - drohende Überschwemmungen, der Krieg in Korea, die schwankenden Baumwollpreise - wurden während des Kirchgangs beiseite geschoben.
Der Herr wolle nicht, dass sich sein Volk sorge, sagte Gran immer, vor allem wenn wir uns in seinem Haus versammelten.
Das kam mir stets merkwürdig vor, weil sie sich fast ebenso viele Sorgen machte wie Pappy.
Abgesehen von der Familie und der Farm war uns nichts so wichtig wie die Baptistenkirche in Black Oak. Ich kannte jeden Einzelnen in unserer Kirchengemeinde, und sie kannten natürlich mich. Wir waren eine große Familie, in Freud und Leid. Wir liebten einander oder behaupteten es zumindest, und wenn einer von uns auch nur ein bisschen krank war, dann beteten wir für ihn und er wurde christlicher Fürsorge teilhaftig. Eine Bestattung war ein einwöchiges, nahezu heiliges Ereignis. Die Erweckungsversammlungen im Frühjahr und im Herbst wurden Monate im Voraus geplant und voller Vorfreude erwartet. Mindestens einmal im Monat veranstalteten wir ein Essen-im-Freien - ein Picknick unter den Bäumen hinter der Kirche, zu dem alle etwas beisteuerten -, das häufig bis zum späten Nachmittag dauerte. Hochzeiten waren wichtig, besonders für die Frauen, aber sie boten nicht das große Drama der Beerdigungen.
Der Schotterparkplatz vor der Kirche war nahezu voll, als wir ankamen. Die meisten Fahrzeuge waren alte Pick-ups wie unserer, alle bedeckt mit einer frischen Schicht Schmutz. Eine paar Pkws standen auch da; sie gehörten entweder Leuten aus der Stadt oder Farmern, die ihr Land besaßen. Ein Stück weiter an der Straße neben der Methodistenkirche parkten weniger Pick-ups und mehr Pkws. Generell galt, dass die Kaufleute und Lehrer dort den Gottesdienst besuchten. Die Methodisten hielten sich für ein bisschen besser, aber als Baptisten wussten wir, dass wir den direkten Draht zu Gott hatten.
Ich sprang von der Ladefläche und lief zu meinen Freunden.
Drei der älteren Jungen warfen hinter der Kirche neben dem Friedhof einen Baseball, und zu ihnen wollte ich.
»Luke«, flüsterte jemand. Es war Dewayne, der sich im Schatten einer Ulme versteckte und ängstlich dreinblickte.
»Hier bin ich.«
Ich ging zu dem Baum.
»Hast du’s schon gehört?«, sagte er. »Jerry Sisco ist heute früh gestorben.«
Ich kam mir vor, als hätte ich etwas Unrechtes getan, und mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können. Dewayne starrte mich an. Schließlich brachte ich eine Antwort zustande.
»Und?«
»Sie suchen nach Leuten, die gesehen haben, was passiert ist.«
»Eine Menge Leute haben’s gesehen.«
»Ja, aber niemand will was sagen. Alle haben Angst vor den Siscos, und alle haben Angst vor deinem Hillbilly.«
»Er ist nicht mein Hillbilly«, sagte ich.
»Ich hab jedenfalls Angst vor ihm. Du etwa nicht?«
»Doch.«
»Was sollen wir tun?«
»Nichts. Wir sagen kein Wort, jedenfalls jetzt nicht.«
Wir kamen überein, nichts zu unternehmen. Wenn man uns zur Rede stellte, würden wir lügen. Und wenn wir lügen müssten, würden wir ein Extragebet sprechen.
Die Gebete an diesem Sonntagmorgen waren lang und wortreich. Ebenso die Gerüchte und der Klatsch, die die Ereignisse um Jerry Sisco betrafen. Die Neuigkeiten ver-breiteten sich rasch. Dewayne und ich hörten Einzelheiten über die Schlägerei, die wir kaum glauben konnten. Hank wurde jeden Augenblick größer. »Hände so groß wie ein Schinken«, sagte jemand. »Schultern wie ein Brahma-Bulle«, sagte jemand anders. »Muss dreihundert Pfund wiegen.«
Die Männer und älteren Jungen bildeten eine Gruppe vor der Kirche, und Dewayne und ich trieben uns dort herum und hörten zu. Ich schnappte auf, dass von Mord die Rede war, dann von Totschlag, und mir war der Unterschied nicht klar, bis Mr Snake Wilcox sagte: »Das war kein Mord. Anständige Leute werden ermordet. Weißer Abschaum wie die Siscos werden totgeschlagen.«
Es war der erste gewaltsame Tod in Black Oak seit 1947, als sich ein paar arme Farmer östlich der Stadt betranken und eine Familienfehde austrugen. Ein Jugendlicher fand sich auf der falschen Seite einer Schrotflinte
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