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Die Fastnachtsbeichte

Die Fastnachtsbeichte

Titel: Die Fastnachtsbeichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Zuckmayer
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geringer Entfernung, wo er
vermutlich durch eine Stockung aufgehalten war.
    Jeanmarie leerte ein Glas Sekt, das ihm
der Hausherr kredenzte, und gleich darauf ein zweites, dabei wich der
beklemmende Druck des Erlebten, der ihm fast übel gemacht hatte, von seinem
Herzen und gab einer andersgearteten, fiebrig pochenden Erregung Raum. Ihm war,
als müsse er etwas tun, etwas aufhalten, verhindern, das sich mit
Schicksalsgewalt zu nähern schien, aber sein Drang zum Handeln war vom
Bewußtsein der Fragwürdigkeit unterhöhlt — allem Tun und aller Welt gegenüber —
, denn alle Welt war plötzlich bodenlos und ohne Gewißheit, alles Tun
verdächtig, und allen Menschen schien alles zuzutrauen. Gleichzeitig quälte ihn
ein Bedürfnis nach Mitteilung, das sich auf keine bestimmte Person bezog und
ohnehin durch die ihm auferlegte Schweigepflicht gelähmt wurde... Am liebsten
hätte er sich in einem Beichtstuhl ausgeflüstert, denn er empfand sich als
mitschuldiger Mitwisser von etwas, das er nicht wirklich wußte und vor dessen
Aufhellung er sich fürchtete.
    An einem kleinen Erkerfenster zur
äußersten Rechten des Raums sah er Viola mit seiner Schwester Bettine. Die
beiden Mädchen kauerten kniend, von einigen Jahrgängen der vielen Bekker-Kinder
umringt, auf dem Sitzpolster und hielten einander mit den Armen um die Taille,
während man für Frau Clotilde Panezza einen Sessel in die Nähe der Balkontür
geschoben hatte, auf dem sie, die Silberdose mit den Migränetabletten in der
Hand, sich ihrem chronischen Phlegma hingab.
    Jetzt verstärkte sich das Bumsen und
Blasen, Pauken und Schmettern, Pfeifen, Huftrappeln und Räderrasseln in rascher
Steigerung, und die Kinder stürmten mit ihren Quietschtrompetchen, die dem
allgemeinen Lärm seine vordergründig schrillen Akzente setzten, auf den Balkon,
von dem sie bunte Papierschlangen und in Glanzpapier eingewickelte
Lutschbonbons auf die Straße warfen, wo sich die ›Bittel‹ drum balgten.
Jeanmarie war von hinten an die aneinander geschmiegten Mädchen herangetreten,
hatte plötzlich seine Arme um ihre Schultern gelegt und sein Gesicht zwischen
ihren Köpfen durchgesteckt — der erschreckte Aufschrei der beiden hatte sich in
munteres Lachen gelöst, nun zog er das angelehnte Fenster auf, und alle drei
beugten sich über eine draußen vorgelegte Geländerstange weit hinaus.
    Mit der freien Luft, die sie jetzt
umwehte, wandelte sich das brodelnde Lautgewirr aus Musikfetzen, Wagengepolter,
Gesinge, Geschrei und Gelächter zu einem einzigen, ungeheuren Brausen, das auf
Jeanmaries überreizte Nerven wirkte wie das Heulen eines lawinenlösenden
Tausturms im Gebirg oder das kataraktische Aufgurgeln und Überschwellen einer
alles verschlingenden Brandung. Er lehnte sich fest an Bettine, die, seine
Erregung spürend, ihre kühle Hand auf die seine legte. Ihrem fragenden Blick
wich er aus. Man würde die morgendliche Fahrt zum Gericht, die natürlich nicht
unbemerkt abgegangen war, der Familie gegenüber vorläufig als eine Erbschaftssache
bagatellisieren, war zwischen ihm und Panezza ausgemacht. Von der Seite
beobachtete er Viola, die aber in völliger Unbefangenheit und ganz mit Schauen
beschäftigt all ihre Aufmerksamkeit der Straße zugewandt hatte.
    Dort näherte sich jetzt, mit Herolden,
kostümierten Spitzenreitern auf tänzelnden oder schon müde dahintrottenden
Gäulen, gesäumt vom Fußvolk und der Reiterei der närrischen Garden, der Zug,
der sich aus endlosen Gruppen phantastisch aufgemachter Festwagen
zusammenfügte, mit schweren, bänder- und glöckchenbehängten Pferden belgischen
oder dänischen Schlages beschirrt. In Abständen durchsetzten ihn die in
Clownkostümen oder barocken Uniformen marschierenden Blech-, Trommel und
Pfeifer-Korps mit ihren manchmal schon weinschwankenden Tambourmajoren.
    Der Zug entrollte sich mit einer
gewissen gravitätischen Schwere und Langsamkeit, die nicht nur vom Tempo der
breitarschigen Percherons bestimmt wurde. Es war kein Zweifel, daß er, bei
aller Lustigkeit und Narretei, sich selbst recht ernst und wichtig nahm und
auch so genommen wurde. Da war nichts von Wildheit, Wüstheit, orgiastischer
Maßlosigkeit, weder bei den Mitwirkenden noch bei den Beschauern, das Ganze war
eine riesige, aber in den Grenzen des kindlichen Vergnügens gehaltene
Volksbelustigung, deren Stimmung ohne Bösartigkeit oder Schadenfreude,
überhaupt ohne das hämische Element, das populären Schaustellungen leicht
anzuhaften pflegt, von harmloser

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