Die Fastnachtsbeichte
Jeanmarie
wie eine Peitsche. Viola hielt die Augen gesenkt, schaute nicht mehr zurück.
Als sie, durch die sogenannte
Zuckergasse, das Ende des Jahrmarkts und fast schon die baumbestandene
Rheinallee erreicht hatten, hörte man plötzlich aus einem Volkshaufen ein
unartikuliertes, jaunerndes Heulen, wie es von einem Betrunkenen, aber auch von
einem Tier ausgestoßen werden mag, inmitten eines rüden, wüst und häßlich
kreischenden Gelächters und Stimmenschwalls. Viola fuhr furchtbar zusammen, als
hätte sie einen Schlag bekommen, im selben Moment reckte sie sich hoch auf und
stieß aus gespitzten Lippen einen sonderbar scharfen Pfiff aus — etwa wie den
Warnpfiff einer Gemse — , der aber in dem allgemeinen Getöse unterging und nur
in Jeanmaries Ohr gellte. Verblüfft starrte er sie an. Ihr Arm zitterte in dem
seinen, ähnlich wie er es am Sonntagmorgen verspürt hatte.
»Was ist«, fragte er ratlos, »was hast
du?« — »Bitte«, sagte sie, jetzt völlig erschöpft, indem sie sich an den Stamm
einer Platane lehnte, »schau nach, was da los ist...«
Jeanmarie drängte sich in den
Volkshaufen, kam rasch zurück: »Sie verulken irgendeinen Besoffenen oder
Verrückten«, sagte er. »Hast du ihn sehen können«, fragte sie angstvoll, »wie
hat er ausgesehen?« — »Ich konnte es nicht erkennen«, sagte Jeanmarie, »er
schien auf allen vieren zu kauern. Vermutlich ist ihm kotzübel, und die
widerliche Bande hat ihren Spaß daran.«
Viola hatte ihre Tüten fallen lassen,
die sie vorher immer noch in ihrem freien Arm trug, das klebrige Zeug rollte in
den mit Fetzen von Papierschlangen und Konfetti durchfleckten Straßendreck.
Schon hatte sich das Gesindel, hinter dem Opfer seiner Spottsucht her, in der
Richtung zum Fischtor und zu den engeren Gassen hin verloren. Langsam führte er
sie zur Haltestelle des Dampfers, wo nur wenige Menschen warteten.
Während der Überfahrt stand sie auf die
Schiffsreling gelehnt, schaute in das schwarz quirlende, gischtzerfetzte
Wasser. Er hielt sich neben ihr, suchte vergeblich nach einem Wort, das er ihr
sagen, mit dem er ihr Gehör finden, den Ring der Abwesenheit und Isolierung
durchbrechen könnte, den sie jetzt wieder um sich geschlossen hatte, nichts
fiel ihm ein. Von Zeit zu Zeit streichelte er leicht ihren Arm, es sah aus, als
ob sie ihre Lippen zu einem dankbaren Lächeln verzog, ihre Augen antworteten
nicht. Er wußte nicht, ob sie ihn noch bemerkte. Auch auf dem Weg zum Gutshof
gelang es ihm nicht, sie anzusprechen, ein paarmal versuchte er es, deutsch,
italienisch, aber sie schien ihn nicht zu verstehen, sah ihn nur bittend, mit
einem verzagten Ausdruck an, so daß er wieder schwieg und ihren Arm
streichelte.
Der Himmel hatte sich mit tief
treibenden, bauchigen Föhnwolken bedeckt, der Park lag in einer schweren,
dampfenden Feuchtigkeit. Kurz bevor sie den Eingang des Hauses erreichten,
blieb er stehn, nahm ihre beiden Hände, zog sie etwas näher zu sich hin. Sie
schaute ihn mit ihren großen violendunklen Augen an, müde, verschattet, ließ
wie ein schläfriges Kind ihren Kopf an seine Schulter sinken.
Jeanmarie hörte den Wind, der in den
Baumkronen ächzte, er hörte vom Dorf das langgedehnte Schreien einer brünstigen
Katze, er hörte das Blut in seinem Schädel pochen, er war sich dieses
Augenblicks und seines eignen Daseins bewußt, als sei er aus sich
herausgetreten und stehe neben sich selbst. Dieses Mädchen hatte ihn wahrhaft
außer sich gebracht. Es war etwas an ihr und um sie, was er bisher bei keinem
jungen Weib erfahren oder empfunden hatte: ein Duft von Frucht und Blüte
zugleich, von Reife und Knospenhauch — die Grenze zwischen Keuschheit und
Wollust schien bei ihr verwischt oder gar nicht vorhanden — , und ihr Antlitz,
ihr ganzes Wesen war von einer leidenschaftlichen Tragik durchtränkt, von einer
schoßgeborenen, schmerzhaften Passion, die sein Herz erschütterte, und in
seinen Nerven ein Gefühl von sinnlicher Trunkenheit entfachte. Daß aber sie den
Sturm seines Empfindens, überhaupt sein Dasein als Mann, offenbar gar nicht
bemerkte, daß sie sich ihm gegenüber in voller Unbefangenheit gab und gleichsam
vor ihm entblößte, fern aller Lockung und jeder Berührbarkeit, steigerte sein
Begehren ins Unerträgliche. Hätte sie ihm jetzt ein Geständnis gemacht, durch
das er zum Mitwisser eines Verbrechens, einer mörderischen Tat geworden wäre,
er hätte nicht gezögert, ihr blindlings, ohne Vorbehalt, ohne Scheu vor den
Folgen, gegen Recht,
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