Die Fastnachtsbeichte
ihrem
Arm gepreßt. Jeanmarie, der den plötzlichen Umschwung ihrer Laune und ihre
schrankenlose Hingabe an die Verzauberung des Augenblicks zuerst gar nicht
begriff, folgte ihr wie in einem Taumel, immer mehr fasziniert und mitgerissen
von der Besessenheit ihres Schauderns, Staunens und Entzückens, ihrem Ernstnehmen
des Wunderbaren, ihrem gläubigen Gepacktsein vom Unglaublichen, dem ebensoviel
Barbarisches wie Kindliches innewohnte — ja es war, wie wenn man einem schönen,
engelhaft unschuldigen Kind, das sich unbeobachtet glaubt, bei einem
verbotenen, gefährlichen, abgründigen Spiel zuschauen würde, und er wußte
plötzlich, daß er hilflos in sie verliebt war. Schließlich veranlaßte sie ihn,
mit ihr in eine obskure Bude einzutreten, die sich als ›Abnormitäten-Schau‹
anschilderte und in der es allerhand Mißgeburten und Groteskfiguren, teils
echter, teils fingierter Natur, zu sehen gab: ein Kalb mit zwei Köpfen, draußen
wie ein lebendiges angepriesen, das aber drinnen in Spiritus schwamm, eine Dame
ohne Unterleib und eine Jungfrau mit Fischschwanz, was durch Spiegelungstricks
glaubhaft gemacht wurde, die dickste Frau der Welt, vier Zentner schwer, die
bayrisch sprach und freiwillige Herren aus dem Publikum auf den Armen
schaukelte, einen verharschten Krüppel ohne Hände, der mit den Fußzehen seinen
Kopf kratzen, die Gabel zum Munde führen, Schlösser und Riegel öffnen, eine
Knallpistole abschießen und sogar die ersten Takte von ›Guter Mond‹ auf der
Geige kratzen konnte. Außerdem aber, als Sensation, für deren Besichtigung man
zehn Pfennige extra zahlen mußte, ein Geschöpf, das auf dem anreißerischen
Plakat mit gesträubter Riesenmähne und wild aufgerissenem Raubtierrachen als
›Lionel der Löwenmensch‹ — ›halb Mensch halb Löwe‹ — abgebildet war.
Es handelte sich um einen lebenden
Menschen von der Größe eines zwölfjährigen Knaben, der zwar in einer Art von
Pagenkostüm steckte, aber im Lauf der Vorführung bis zum Gürtel und bis zum
Knie hinauf ausgekleidet wurde und tatsächlich über und über, auch im Gesicht,
das kaum den Mundschlitz und die Augen frei ließ, und auf den Armen und Händen,
die in kurze spitzige Fingerchen ausliefen, mit fahlblonden pelzigen Haaren
bedeckt war. Auch die Naslöcher blähten sich klein und schwärzlich unter
dichtem Fell. Statt des Löwengebrülls kam aus der jämmerlichen Mundspalte, die
keine Zähne sehen ließ, ein dünnes piepsiges Stimmchen, das in mühsam
gestotterten Worten den Damen und Herren Guten Tag bot und behauptete,
»in-ei-ne-Lö-benn-Höl-le-ge-fun-denn« worden zu sein.
Viola betrachtete die traurige
Erscheinung mit großem Ernst und — wie es schien — unter angestrengtem
Nachdenken. Ihre Lebhaftigkeit war jäh verflogen, anstelle der
kindlich-fühllosen Neugierde war der leidvolle, gequälte Ausdruck in ihr
Gesicht zurückgekehrt.
»Glaubst du«, fragte sie Jeanmarie,
»daß er wirklich in einer Löwenhöhle aufgewachsen ist?«
»Aber nein«, sagte er, »das ist doch
Schwindel. So eine Mißgeburt kommt eben manchmal vor, man behauptet wohl, wenn
sich schwangere Frauen an irgend etwas versehen... Mit wirklichen Löwen hat der
nichts zu tun.«
»Ob sich so einer«, sagte Viola, mehr
vor sich hin, »selbst ernähren könnte, wenn man ihn laufen läßt?... Gehen wir,
bitte«, fügte sie hinzu, ohne eine Antwort abzuwarten.
Es war dunkler geworden, das Gewühl in
den Zeltgassen und zwischen den Buden, die vorher exotisch und märchenhaft,
jetzt aber nur grell und laut erschienen, hatte sich verstärkt und warf
heftige, ungeduldige Stoßwellen. Etwas Böses, Rohes, Hinterhältiges lag in der
Luft, es war, als drängten sich die Leute, um grinsend einer Folterung
beizuwohnen, mit weißen, aufgerissenen Gesichtern, die Stimmen der Ausrufer
gellten wie Schmerzensschreie in das brutale Hämmern der Karusselle. Es gab
keine Menschenstimmen mehr, alles meckerte, gackerte, blökte, krächzte
durcheinander. Jeanmarie hielt Viola fest an seinem Arm, dem Ausgang
zustrebend. Vor der Bude des Kölner-Hennesje-Theaters brüllte ein schon
gurgelheiserer Marktschreier, mit verschmiertem Gesicht, der ein Papiermache-Schwein
um seinen Bauch gebunden hatte und damit wilde Galoppsprünge vollführte, als ob
er darauf ritte — unentwegt auf die Pauke hauend -, den Refrain eines damals
umgehenden, ordinären Gassenhauers:
Widdewidd-bumbum,
widdewidd-bumbum,
Die
Liebe bringt die Weibsleut um.
Sein gemeiner Klang verfolgte
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