Die Feen - Hallmann, M: Feen
unmögliche Aufgabe. Der Schutzgeist des MacGregor-Clans als Beschützer eines Wechselbalgs, das streng genommen gerade gegen den Clan vorging … so groß die Freundschaft sein mochte, die er für Leslie empfand, so schwierig musste es für ihn sein.
Leslie zog ihn an den Ohren. »Im schlimmsten Fall weigert sie sich, und wir gehen wieder nach Hause. Ich verspreche dir, dass ich das tu – wenn sie es nicht möchte, dann werde ich das akzeptieren. Dann gehen wir nach Hause und überlegen uns eine andere Lösung.«
Ihre Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Widerstrebend fügte er sich. Gab dem Druck der kleinen Hände nach, schmiegte seinen Kopf an ihre Wange und grollte tief in der Kehle. Benny sah, wie er die Augen schloss, als ringe er um Fassung. Das hatte er noch nie einen Hund tun sehen, aber Grau war ja auch kein Hund.
Eine Weile ließ Leslie ihn gewähren. Dann schob sie ihn sanft fort. »Bereit?«, fragte sie.
Grau starrte sie an. Dann nieste er und senkte den Kopf.
»Gut.« Sie richtete sich auf. Das Gesicht des Leprechauns war nachdenklich, aber er sagte nichts, sondern nickte nur und ging weiter voran.
Bereits hinter der nächsten Biegung der Treppe erstreckte sich plötzlich ein Gang vor ihnen. Er war lang und prächtig ausgestattet, der Teppich doppelt so dick wie unten, so dass man fast wie auf mit Tannennadeln gepolstertem Waldboden lief. Im Vorbeigehen warf Benny einen Blick auf die Wandteppiche. Manche zeigten Glen aus verschiedenen Perspektiven, auf anderen waren Jagdszenen zu sehen. Auf mindestens dreien, die er flüchtig anschaute, entdeckte er einen riesigen grauen Wolfshund.
Zu Bennys Erstaunen dehnte sich der Gang weder aus noch zog er sich zusammen. Es war ein ganz normaler Gang, nur dass er eben zufälligerweise am Ende einer unendlichen Treppe lag, die sich durch wirbelnden Nebel hinaufschraubte, aber er war bereit, solche Details zu vernachlässigen angesichts der erstaunlichen und willkommenen Eigenschaft des Gangs, sich nicht zu verändern und ganz normal und fest und zuverlässig zu sein.
Im gesamten Gang gab es nur eine einzige Tür. Sie lag ganz am Ende, und auf sie hielten sie zu.
Leslie war nicht imstande, irgendetwas Zusammenhängendes zu denken, als der Kerrigan die Tür öffnete. Sie war ganz Herzklopfen und Aufregung. Und Angst. Tiefe Scheu vor diesem so lange herbeigesehnten Moment erfasste sie. In dem Augenblick, als sie hinter Grau, der sich vordrängelte, durch die Tür trat, wollte sie am liebsten fortlaufen. Zurück zu Gin, um das Gesicht an ihrer Brust zu vergraben und einfach nur Leslie zu sein.
Hinter der Tür lag ein gemütliches, nicht allzu großes Zimmer. Zwei Sofas, ein Sessel, ein Kamin. Ein Tisch an einer Längsseite, auf dem ein paar Erfrischungen bereitstanden – Wasser, Saft und Kekse. Neben dem Kamin eine schmale Tür. Vermutlich zur anderen Seite, dachte sie und sah vor ihrem geistigen Auge, wie sie später durch diese Tür gehen würde statt durch die, durch die sie den Raum betreten hatte.
Dann sah sie nichts anderes mehr als ihre Schwester.
Sie saß auf dem Boden vor dem Sofa und sortierte Herbstlaub. Ihr langes blondes Haar war sorgsam geflochten, eine komplizierte Frisur, bei der sich mehrere feine kleine Zöpfe mit einem dicken Strang am Hinterkopf vereinten, der lang und schwer den Rücken hinabfiel. Sie trug ein einfaches blaues Leinenkleid. Ihre Augen waren konzentriert auf das Laub gerichtet, ein großer Haufen vor ihr, den sie zu drei kleineren ordnete. Leslie erkannte keine Gemeinsamkeit der Blätter auf den unterschiedlichen Haufen. Weder sortierte das Mädchen nach Größe, noch nach Farbe, und auch Schönheit schien nicht das Kriterium zu sein – nach sorgfältiger Prüfung, bei der die Kleine das Blatt einer Eberesche hochhielt und es gegen das Licht betrachtete, wanderte es trotz seiner zerrissenen Kanten auf denselben Haufen wie zuvor ein nahezu perfektes Eichenblatt.
Sie ist verrückt, dachte Leslie benommen. Der Gedanke kam so plötzlich und schrecklich, dass sie ihn stumm wiederholte. Was, wenn sie zu spät war? Wenn ihre Schwester bereits unrettbar den Verstand verloren hatte, wie ihre Mutter – wenn fortan zwei Geister im Herrenhaus spuken würden, zwei traumverlorene Geschöpfe, die nicht wussten, in welcher Zeit sie sich befanden und mit wem sie sprachen?
Da hob ihre Schwester den Kopf und schaute sie an. Die Augen waren klar und blau. Ihr Gesicht erinnerte Leslie an ein Kinderfoto der Mutter, das in einem alten
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