Die Feen - Hallmann, M: Feen
davonzutrotten, würde Grau sie vergnügt anhecheln, den Kopf in ihre Hand schieben und sich die Ohren kraulen lassen, und Gin würde wissen, nicht hoffen oder glauben oder sich wünschen, sondern wissen , dass es wirklich Leslie war. Fort, aber nicht tot. Und sie würde über Gin wachen, solange Gin lebte. Er wusste, dass es ein schlechter Moment war, ein unpassender, aber ihn überfielen heißer Neid und Zorn auf den Krebs und die Dummheit seiner Mutter, die bis zur letzten Sekunde mit dem unliebsamen Arztbesuch gewartet hatte, die klaglos die Schmerzen hingenommen hatte, bis es zu spät war. Zorn, weil andere sich nicht trennen mussten. Weil es nicht fair war und weil es keinen Vertrag gab, auf dem stand, dass es fair zugehen musste. Niemanden, bei dem er einfordern konnte, dass so etwas nicht geschah. Weil er so hilflos ausgeliefert war. Aber der Zorn war ein anderer als der, den er kannte. Kein Tentakel regte sich in seinem Innern, und keine unheimliche Kraft erfüllte ihn und ließ ihn glauben, er sei unbesiegbar. Klein und hilflos fühlte er sich, und er wünschte, er wäre nie nach Glen gekommen.
Leslie spürte, wie sich Bennys Zorn regte, bevor die Schatten es taten. Sie schaute ihn von der Seite an, und da war es, dieses seltsame Lodern in seinen Augen. Da kam auch schon Bewegung in die Schatten, sie glitten lautlos übereinander, schienen sich, obwohl sie keine Nasen besaßen, schnüffelnd zu strecken, lauschten ohne Ohren, suchten. Behutsam legte sie Benny eine Hand auf den Arm, und er fuhr zusammen. »Schscht«, machte sie.
Irgendwann, eines Tages, würde er begreifen, dass dieser Zorn keine Krankheit war, nichts Fremdes, das über ihn kam, weil etwas in ihm kaputt war, sondern ein Teil von ihm, der schon immer dagewesen war und mit dem er umgehen lernen musste wie mit einem heraufziehenden Gewitter. Aber so weit war er noch nicht. Vielleicht würde sie es erleben können, ihm vielleicht sogar dabei helfen können, es zu entdecken, wenn er in Glenshee blieb. Sie hoffte es. Aber das alles war so unwägbar wie das Wetter im nächsten Jahr, und es lohnte sich nicht, jetzt darüber nachzudenken.
Der Schreck hatte Benny abgelenkt, die Schatten zogen sich wieder zurück. Aufmunternd lächelte sie ihm zu, und nach kurzem Zögern lächelte er zurück. Hübsch war er, fand sie, auf eine unauffällige Art hübsch mit dem aschblonden Haar und den grün gesprenkelten Augen und dem schmalen Körperbau des geborenen Läufers. Trotzdem sehnte sie sich nach Oliver und wünschte, statt Benny wäre er jetzt hier. Oliver mit seinen aufmerksamen, spöttischen Augen und den zu langen Zähnen und dem zu langen Gesicht, das sie ein wenig an das des Kelpies erinnerte. Oliver, der nicht hübsch war, und auch nichtgut , wie Sil gern betont hatte, nichtgut , obwohl selbst Sil ihm nach der letzten Nacht eine gewisse Tapferkeit wohl nicht hätte absprechen können. Sie fragte sich, was er jetzt über sie dachte. Was er je über sie gedacht hatte.
Wie verabredet erwartete der Kerrigan sie am Durchgang zum Ostturm. Leslie schob den Gedanken an Oliver beiseite. Der Leprechaun stand an der Tür wie ein Butler, und sein etwas ironisches Lächeln machte klar, dass es ihm bewusst, vermutlich sogar Absicht war. »Miss Leslie«, sagte er. »Mister Reutter. Und … Mister Grau.«
Grau schnaufte misstrauisch. Von den Leprechauns hatte er sich immer ferngehalten, wenn es möglich war.
»Sie sind pünktlich.« Der Kerrigan lächelte. »Kommen Sie. Ihre Schwester erwartet Sie bereits.«
Ihre Schwester erwartet Sie bereits. Die Worte hallten in Leslie nach wie Glockenschläge, ihr Echo wischte die Gedanken an Oliver und Gin und auch an Sil beiseite.
Ihre Schwester erwartet Sie bereits.
Nicht die Schwarze Banshee. Ihre Schwester. Nicht träumend. Wach.
Ihr Herz schlug furchtbar schnell und trieb ihr das Blut ins Gesicht. Erwartungsvoll folgte sie dem Kerrigan. Grau und Benny liefen neben ihr, flankierten sie, in ihren Gesichtern lag Misstrauen. Aber jedes Misstrauen, das Leslie noch empfunden haben mochte, war ausgelöscht angesichts der Aussicht, in wenigen Augenblicken zum ersten Mal seit achtzehn Jahren ihrer Schwester gegenüberzustehen, mit der sie so eng verbunden war, dass der Tod der einen auch den der anderen bedeuten mochte.
Der Ostturm war prachtvoller ausgestattet als der Rest Glens. Auf den Gängen lagen dicke weinrote Teppiche, die das Geräusch ihrer Schritte schluckten, an den Wänden sah Benny Gobelins, Waffen,
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