Die Feen - Hallmann, M: Feen
Familienalbum in der Bibliothek klebte.
Hinter Leslie fiel die Tür zum Gang zu.
»Da bist du ja endlich«, sagte die Kleine und lächelte.
Sie sahen einander ähnlich. Am See vor ein paar Tagen, da hatte Benny gedacht, die Ähnlichkeit sei nicht allzu groß, aber jetzt sah er sie in aller Deutlichkeit. Mit Mühe widerstand er der Versuchung, sich die Augen zu reiben. Leslie war wie ein älteres Zerrbild der Kleinen. Als wäre ein hübsches Kind in einen schrecklichen Unfall verwickelt worden und stünde nach Jahren voller Operationen, die es einigermaßen wiederhergestellt hatten, vor seinem kindlichen Spiegelbild. Das Haar hatte denselben Goldton, aber das des Mädchens war voll und glänzte. Beide Gesichter waren klein und herzförmig, aber während in dem der Kleinen die Proportionen ausgewogen waren, waren sie bei Leslie verzerrt, schief, und im Kontrast fiel es mehr auf als sonst. Leslie war ein Abbild der Kleinen in einem zerbrochenen Spiegel.
Das Mädchen stand auf. Das zerrissene Blatt, das sie eben zuoberst auf einen Stapel gelegt hatte, hob sie auf und nahm es mit. Wenige Schritte, und sie hatte den Abstand zwischen beiden überbrückt. Mit kindlichem Eifer streckte sie Leslie die Hand mit dem Blatt entgegen. »Für dich!«, sagte sie.
»Danke«, flüsterte Leslie, die den Blick nicht abwenden konnte, und nahm das Blatt entgegen wie das kostbarste Geschenk, das man sich vorstellen konnte.
Wäre Grau nicht gewesen, der neben Benny stand und vor Anspannung zitterte, hätte Benny nichts Böses gedacht. Aber Grau war da, und er bebte. Seine Anspannung übertrug sich auf Benny. Er sah die Kleine an und erinnerte sich an ihr Zischen, an die plötzliche Schwärze ihrer Augen. Aber das am See war ihr Traumabbild gewesen. Die Schwarze Banshee. Dies hier war ein echtes kleines Mädchen, drei oder vier Jahre alt.
Ihre Augen sind älter, dachte er beklommen. Er machte sich klar, dass dieses kleine Mädchen dort seit ihrer Geburt in der Feenwelt lebte. Der Gedanke war zu bizarr, um es zu begreifen.
»Ich habe mir gedacht«, sagte das kleine Mädchen, »dieses Blatt passt zu dir.«
Leslie schaute das Blatt nicht an. Sie sah aus wie verzaubert. Sie starrte nur auf die Kleine.
»Es war auch müde«, flüsterte das Mädchen und streichelte Leslies Hand. »Da ist es vom Baum gefallen.«
Leslie traten Tränen in die Augen. Umständlich ließ sie sich auf die Knie sinken und war auf Augenhöhe mit dem Mädchen. Sie streckte die Hände aus, in der einen noch immer das Blatt, und fasste die Kleine an den Schultern. Neben Benny erschauerte Grau wie im Fieber.
»Warst du sehr einsam?«, fragte Leslie.
Reglos starrte die Kleine sie an. »Nicht so sehr wie du«, erwiderte sie dann.
»Woher weißt du das?«, flüsterte Leslie.
Zurück, dachte Benny. Eine üble Vorahnung stieg in ihm auf. Weg von ihr! Aber er war wie gelähmt und gab keinen Ton von sich.
»Ich habe dich beobachtet«, sagte die Kleine und nickte ernsthaft. »Manchmal habe ich dich beobachtet. Du bist gern am See. Du hast dich mit dem Kelpie angefreundet und mit Kühen unterhalten. Du bist ums Herrenhaus gestrichen, als würdest du dir wünschen, du wärst dort zu Hause, und wüsstest doch, dass es niemals so sein kann. Du hast Alasdair geliebt und liebst ihn noch, obwohl er dich andauernd beleidigt und dich manchmal sogar schlägt, weil er dich nicht ertragen kann. Vater wäre es am liebsten, es gäbe dich nicht. Mutter glaubt, du seist ich. Der einzige Mensch auf der Welt, den du hast, ist diese dicke alte Frau, die in dem kleinen Haus am Dorfrand wohnt.«
Benny sah, wie Leslie bleich wurde. »Das … stimmt«, sagte sie unsicher. »Aber das ist keine alte dicke Frau. Das ist Gin. Sie ist sehr lieb.«
Mit einer wegwerfenden Bewegung schleuderte die Kleine ihren Zopf nach hinten. »Ist mir egal, wie sie heißt. Wenn ich will, mache ich, dass zwanzig Jahre vorbei sind. Dann ist sie tot.«
Heiß stieg der Gedanke in Benny auf, dass dieses Treffen nicht gut verlaufen würde. Nicht wie geplant. Gar nicht wie geplant. Neben ihm grollte Grau dumpf auf.
»Das ist … sehr schlecht erzogen«, sagte Leslie irritiert. »So etwas solltest du nicht sagen.«
»Ich bin nicht schlecht erzogen«, entgegnete die Kleine. »Ich bin gar nicht erzogen. Und ich bin auch kein Kind mehr, du dämliche Kuh. Ich bin Hunderte von Jahren alt, ich bin eine Königin und eine MacGregor, und du bist nichts weiter als ein Haufen Rindereingeweide, Darmschlingen und Knochen, der
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